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junge Welt, Mittwoch, 24. Januar 1996, Nr. 20, Seite 2,ansichten

Astrid Nielsen Lübeck: Konflikte unter Asylbewerbern?

Astrid Nielsen ist Grundschullehrerin in Lübeck, sie unterrichtet auch Kinder aus dem abgebrannten Asylbewerberheim

F: Wie war der Zustand des Hauses vor dem Brandanschlag?

Die Fassade des 100 Jahre alten Hauses war sehr gut, wohingegen es im Inneren ziemlich heruntergekommen war. Als ich das erste Mal dieses Haus betrat, dachte ich, daß da auch 100 Jahre nichts mehr gemacht worden ist. Da das Haus wie ein normales Wohnhaus behandelt wurde, galten nur die brandtechnischen Vorschriften für Wohnhäuser. Deshalb war auch keine Fluchttreppe da, sondern nur eine einzige, relativ enge Holztreppe. Unten befand sich ein Büro, in dem das einzige Telefon vorhanden war. Eigentlich war es ja ein öffentliches Haus, zu dem viele Zugang hatten.

F: Hätte man ohne große Schwierigkeiten in das Haus eindringen können, wenn man gewollt hätte?

Meiner Meinung nach ja. Tagsüber war die Tür immer offen.

F: Es wird von Konflikten unter den Bewohnern des Asylbewerberheims berichtet. Hatten Sie Kenntnis von Streitigkeiten unter den Bewohnern?

Nein, ich weiß nichts von Konflikten, die über das Normale hinausgehen, wenn man auf sehr engem Raum zusammenwohnt. Das ist eines der Häuser gewesen, in denen es meines Wissens nach nie einen Polizeieinsatz wegen irgendwelcher Konflikte gab.

F: Was wissen Sie über den jetzt unter Tatverdacht stehenden Libanesen Safoan E.?

Er gilt als besonnen. Wir meinen, wenn er das gemacht hätte, müßte er an der Grenze zur Debilität sein, und davon ist uns überhaupt nichts bekannt geworden. Die Bewohner sagen auch mir gegenüber immer wieder, daß sie nicht daran glauben, daß dieser junge Mann es gewesen sein soll.

F: Sind Sie von den Bewohnern auf Vorkommnisse aufmerksam gemacht worden, beispielsweise, daß Skinheads am Haus gesehen worden seien?

Nein. Aber die Bewohner sagen, daß wiederholt Brandanschläge auf das Haus verübt worden sind, was man ihnen aber nicht glaubt, und was die Polizei bestreitet. Die Bewohner haben Gerätschaften wie Benzinkanister gefunden, die reingeworfen wurden, sich aber nicht entzündeten. Das haben sie damals auch den Betreibern des Hauses gemeldet. Das letzte Mal war das im Dezember 1995, davon wurde häufig geredet. Aber schriftliche Drohungen gab es meines Wissens nach nicht.

F: Bewohner wollen in der Nacht auch gesehen haben, daß ein Gegenstand ins Haus geflogen sei?

Ja, das habe ich gehört.

F: Wie schätzen Sie die Informationspolitik der Behörden ein?

Sie halten etwas zurück. Zumindest tun sie so, als hätten sie noch Beweismaterial gegen den Libanesen. Es kommt mir, ich will nicht übertreiben, sehr merkwürdig vor. Es käme ja auch nicht ungelegen, wenn man ihn jetzt als möglichen Tatverdächtigen hat, und sich die Gemüter ein bißchen beruhigen können. Wer weiß, was man damit beabsichtigt.

F: Warum käme es den Behörden Ihrer Meinung nach nicht ungelegen, den Libanesen als Täter zu präsentieren?

Zunächst glaubte man an einen rechtsradikalen Anschlag. Auch unser Bürgermeister machte Angebote, die in Richtung Bleiberecht für Asylbewerber, mindestens aber die Bewohner des Hauses, gingen. Meine Befürchtung ist die, daß diese Versprechungen unter den neuen Gegebenheiten auf keinen Fall auch nur im Ansatz eingelöst werden. Wenn sich durch die Wahl im März die politischen Kräfte irgendwie verändern sollten, müßten die Versprechen des Bürgermeisters nicht mehr eingelöst werden.

Interview: Charlotte Spielmann