junge Welt, Donnerstag, 22. Februar 1996, Nr. 45, Seiten 6/7, antifa
(...) Wir halten eine unabhängige Untersuchungskommission für dringend geboten. Dabei kann es nicht darum gehen, eine Art Antifa-Ermittlungspolizei einzurichten. Eine Institution muß geschaffen werden, die die angewandten Ermittlungsmethoden, die zu gut passenden, weil »Deutschland entlastenden« Ergebnisse und die Motive der ErmittlerInnen hinterfragt sowie die Umstände gesellschaftlicher Natur, die am Brand (...) mitschuldig sind, offenlegt.
(...) Die Kommission soll die Ermittlungsbehörden unter Druck setzen, damit diese in allen Richtungen (...) ermitteln. Unsere Befürchtung, daß mit der Festnahme eines Flüchtlings andere Spuren fallengelassen werden, scheint eingetreten zu sein. Vor dem Hintergrund skandalöser Ermittlungen (Stuttgart, Hattingen, Solingen) rechtfertigt sich das schärfste Mißtrauen gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungsbehörden müssen gezwungen werden, ihre Karten auf den Tisch zu legen. (...)
Die mit einer Untersuchungskommission entstehende Öffentlichkeit muß genutzt werden, um die betroffenen Flüchtlinge selber zu Wort kommen zu lassen. Es ist bezeichnend für den bundesdeutschen Rassismus, daß Abschiebe- und Asylpraxis dreieinhalb Wochen nach dem verheerenden Brand aus der öffentlichen Diskussion verschwinden.
(Lübecker Bündnis gegen Rassimus und Antirassistisches Telefon Hamburg)
Eine Resolution mit entsprechendem Inhalt wurde auf dem TRIBUNAL gegen die Flüchtlingspolitik der Freien und Hansestadt Hamburg, »angeklagt Hamburg«, vom 2. bis 4. Februar verabschiedet
(...) Das vom städtischen Leben isolierte Haus in der Lübecker Hafenstraße ist keine Ausnahme
es ist das Sinnbild für die herrschende Asylpolitik: Die Flüchtlinge sollen aus unseren Augen verschwinden. Sollen an den Rand gedrängt werden. Und die Menschen, die der Bundesgrenzschutz einfach nicht abschieben kann, werden monatelang in extra erbaute neue Abschiebeknäste wie in Berlin/Grünau gesteckt.
Reißt die Abschiebeknäste ein, laßt die Gefangenen frei, leistet praktischen Widerstand gegen alle Abschiebungen!
(...) In den tristesten Ecken der Städte, zwischen Industrieflächen und Bahnanlagen findet ihr sie: Abschiebeknäste und Flüchtlingsheime, manchmal Container, manchmal sogenannte Wohnschiffe. (...) Die Betreiber dieser Unterkünfte verdienen an der Ausgrenzung dennoch so reichlich, daß sich in den letzten Jahren eine regelrechte Asyl-Industrie entwickelt hat, die Freßpakete, Einkaufsstellen, Container und Sicherheitsdienste anbietet.
Weg mit den Lagern, freie Wahl der Wohnung für alle!
(aus einem Redebeitrag der Antirassistischen Initiative Berlin, gehalten auf der Demonstration gegen Sozialkürzungen und Ausgrenzung am 25. 1. in Berlin)
(...) Wann und in welcher psychischen oder physischen Lebenssituation bringen Deutsche eigentlich keine Ausländer um? Der Anlaß ist beliebig. Denn es handelt sich um eine Alltagsnormalität in Deutschland bzw. um einen potenzierten Vernichtungswillen, der nicht nach Motiven, sondern nach Anlässen sucht, um sich mörderisch zu artikulieren. (...) Wenn man/frau berücksichtigt, daß bisher 80 Prozent der TäterInnen bei rassistischen Angriffen keine Neonazis oder Skinheads, sondern stinknormale deutsche BürgerInnen waren, dann gilt für uns: Aufpassen! Jeder ist uns der Nächste. (...)
Café Morgenland behält sich vor, zusammen mit anderen MigrantInnen-Gruppen ein »Untersuchungskomitee zur Aufklärung der Verbrechen des organisierten Deutschtums« einzuberufen. (...) Vielmehr soll es darum gehen, die Offenlegung des inzwischen verschärften »German-Problem« zu vollziehen, mit dem Ziel, die offizielle »Deckel-drauf«-Linie zu Fall zu bringen, die hier lebenden Flüchtlinge und MigrantInnen zu informieren sowie Deutschland im Ausland zu denunzieren. (...)
(MigrantInnengruppe Café Morgenland, Frankfurt/Main)
Das Lübecker Staatskonstrukt ist ebensowenig einmalig wie Brandanschläge als solche. Trotzdem bedeutet Lübeck einen gesellschaftlichen Einschnitt. Blieben der deutsche Täterschutz und die Verschärfung des gesellschaftlichen rassistischen Konsenses in den anderen Fällen getrennt, fallen sie in der Lübeck-Aufarbeitung zusammen. Das ideologische Ergebnis von Lübeck ist: »Ausländer« sind eine Gefahr, sei es für sie selbst, die Deutschen oder das deutsche Ansehen. Nach Lübeck scheint aus deutscher Sicht einmal mehr die Gefährlichkeit von »Völkergefängnissen«, die manchmal so groß sein können wie ganz Jugoslawien, manchmal so klein wie ein Haus am Hafen, bewiesen. Von sich selbst ausgehend, folgern Deutsche: Wo verschiedene »Ethnien« zusammenleben, gibt es Mord und Totschlag. (...)
Die Deutschen begnügen sich nicht mit »Richtigstellung«. Es wird auf Entschuldigung gepocht. Die zwischenzeitliche Spur zur Grevesmühlener Nazi-Szene, die international nochmal das Bild von Pogrom-Deutschland (»rostocking«) aufflackern ließ, wird nun zum deutschen Glücksfall, der arbeitsteilig genutzt wird. Der stramm rechts-nationale Teil der Deutschen führt die Generalabrechnung mit den nationalen »Nestbeschmutzern« und der internationalen Presse. (...) Die Alternativen überbieten sich in Selbstkritik. (...) So entschuldigt sich die taz, im ersten Affekt noch so etwas wie deutsche Kontinuität und deutsche Täterschaft überhaupt gedacht zu haben. (...)
Der Übergang vom Entlastungswunsch zur offenen nationalistischen Aggressivität, der sich anhand von »Lübeck« innerhalb von zwei Tagen abspielte, entspricht der politischen Veränderung in Deutschland in den letzten zwei Jahren. Es handelt sich um die Überwindung einer Phase, in der Deutschland und Deutsche bezüglich der rassistischen Gewalt aus einer Verteidigungshaltung heraus handelten, wie sie in den Lichterketten zum Vorschein kam. (...) Damals zelebrierte sich das »bessere Deutschland« mit Blick auf den Rest der Welt. Heute versöhnt sich Deutschland mit sich selbst und gegen den Rest der Welt. Das bedeutet eine härtere Gangart gegenüber denjenigen, die diesen Prozeß behindern und der Volksgemeinschaft mit Kontinuitätsthesen auf den Wecker gehen. (...) Deutschland hat genug von seinen Opfern.
(»einige Leute aus dem antinationalen büro«, Hamburg)