junge Welt, Montag, 26. Februar 1996, Nr. 48, seite 2, ansichten
Dr. Hermann Meyn ist Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes (DJV). jW sprach mit ihm
F: Seit der letzten Januarwoche haben Staatsanwälte und Polizei in Lübeck eine »totale Nachrichtensperre auf unbefristete Zeit« verhängt. Nach Angaben diverser Nachrichtenagenturen ist diese Maßnahme unter anderem damit begründet worden, daß Medien vereinzelt selbst Zeugen befragt hätten. Was ist eine Nachrichtensperre?
Nachrichtensperre ist eine Formulierung, die einen falschen Eindruck erweckt. Eine Nachrichtensperre in dem Sinne gibt es gar nicht. Es gibt nur die Möglichkeit für Behörden, Nachrichten bzw. Auskünfte zu verweigern. Nach den Pressegesetzen der Länder sind Behörden im Grundsatz zur Erteilung von Auskünften verpflichtet. Ausnahmsweise kann die Erteilung von Auskünften verweigert werden, wenn dadurch die sachgerechte Durchführung eines schwebenden Verfahrens vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet wird. Auf diese Vorschrift hat sich die Lübecker Polizei berufen.
F: Die Polizei kann Medien aber nicht verbieten, über einen bestimmten Fall zu berichten oder selbst zu recherchieren.
Nein, natürlich nicht. Im Gegenteil, gerade wenn die Behörden ihr Wissen nicht preisgeben, also Auskünfte verweigern, sind Journalisten auf eigene Recherchen angewiesen, versuchen sie, selber Zeugen ausfindig zu machen und zu befragen. Auch wenn es beispielsweise um Auskünfte über die Arbeit einer Behörde geht, sind eigene Recherchen sinnvoll, weil der Pressestellenleiter einer Behörde kaum etwas Schlechtes über die Behörde sagen wird.
F: Werden Nachrichtensperren oft verhängt?
Bei der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer erfand das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung den Begriff der Nachrichtensperre. Das war der einzig spektakuläre Fall. Aber auf lokaler und regionaler Ebene dürfte es häufiger vorkommen, daß der Pressesprecher einer Behörde erklärt: Dazu sagen wir nichts.
F: Kann eine Nachrichtensperre nicht eine Verletzung der Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit darstellen? Natürlich. Wenn die Auskunftsverweigerung nicht gerechtfertigt ist, wenn es keine Begründung dafür gibt, dann ist es eine Verletzung von Artikel 5 Grundgesetz. Die Möglichkeit, bzw. das Recht, in gewissen Fällen die Auskunft zu verweigern, kann auch mißbraucht werden. Neben der oben genannten Gefährdung eines schwebenden Verfahrens können übrigens auch mit dem Hinweis auf Geheimhaltungsvorschriften oder unter Berufung auf die drohende Verletzung von überwiegend öffentlichen oder privaten schutzwürdigen Interessen Auskünfte verweigert werden.
F: Gibt es Rechtsmittel gegen diese Auskunftsverweigerung?
Wenn ich als Journalist den Eindruck habe, daß der Pressestellenleiter einer Behörde zu Unrecht Auskünfte zurückhält, indem er ein angebliches Auskunftsverweigerungsrecht vorschiebt, um in Wahrheit unliebsame Wahrheiten zu vertuschen, dann kann ich ihn wegen Verletzung der Auskunftspflicht anzeigen. Ich kann die Auskunft beim Verwaltungsgericht einklagen. So etwas gab es aber noch nie.
F: Weshalb wurde in den Medien gegen die Nachrichtensperre nach dem Brand in Lübeck kaum Protest laut?
Als Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes habe ich sowohl gegen die »Vorverurteilung« der ursprünglich Festgenommenen protestiert - obwohl man gerechterweise sagen muß, daß die Journalisten von der Polizei bzw. der Staatsanwaltschaft zu diesem Verdacht hingeführt worden waren, als auch gegen die Verhängung der sogenannten Nachrichtensperre.
Interview: Hermine Jöst