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junge Welt, Mittwoch, 3. Juli 1996, Nr. 153, Titelseite

>> Safwan Eid freigelassen: Deutschland verliert ein Alibi

Am Dienstag entschied die Lübecker Jugendkammer, den Libanesen Safwan Eid nach knapp sechs Monaten aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Der Jugendrichter sprach von »durchgreifenden Zweifeln« an der Täterschaft Eids. Der 20jährige, dem die Staatsanwaltschaft bisher vorgeworfen hat, für den Brand im Lübecker Flüchtlingswohnheim verantwortlich zu sein, konnte noch gestern das Gefängnis verlassen. Dort wurde er von seiner Familie sowie seiner Anwältin Gabriele Heinecke abgeholt.

Die Richter stellen die bisherigen behördlichen Interpretationen vom Brandverlauf in Frage. Auch der Aussage des Sanitäters Jens Leonhardt messen sie weniger Bedeutung zu. Eid soll nach Aussagen des Sanitäters diesem gegenüber in der Nacht ein Geständnis abgelegt haben. Diese Angaben seien »durch die Ermittlungen nicht hinreichend belegt«.

Die Journalistin Beate Klarsfeld, die sich in einer Internationalen Untersuchungskommission mit dem Fall beschäftigt, geht davon aus, daß die Strafverfolger »von dem Kronzeugen ablassen, weil sie erkannt haben, daß er ein Spinner ist«. Eine Hauptverhandlung wird wohl erst gar nicht eröffnet«, so Klarsfeld gegenüber junge Welt. Unterdessen gibt es neue Erkenntnisse, die auf rechtsradikale Täter hinweisen.

> jW sprach mit dem Lübecker Bürgermeister Michael Bouteiller (SPD)

>> Hat die Staatsanwaltschaft nach Staatsräson ermittelt?

F: Der Libanese Safwan Eid ist aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Ein dringender Tatverdacht gegen ihn besteht nicht mehr. Wie bewerten Sie die Freilassung Eids?

Ich freue mich für Safwan Eid. Ich hoffe, daß der Fall nun rückhaltlos aufgeklärt wird. Auch ich habe Zweifel an einer Täterschaft des Libanesen.

F: Nach der Lübecker Brandnacht sind Sie durch Ihre recht radikale Kritik an der herrschenden Asylpolitik, der auch die SPD zugestimmt hat, aufgefallen. Wie kamen Sie damit in Ihrer Partei klar?

Mittlerweile hat hier beim Kreisverband und auch auf dem Parteitag ein Umdenkungsprozeß stattgefunden. Viele SPD-Mitglieder sind zu der Erkenntnis gekommen, daß sie das so nicht gewollt haben und einfach über den Tisch gezogen wurden. Das Lernen ist ein heilsamer Prozeß.

F: Dennoch werden zahlreiche Verschärfungen in Sachen Flüchtlingspolitik von der SPD mitgetragen.

Natürlich. Das Problem ist, daß die politischen Verhältnisse im Augenblick offen sind. Die SPD hat immer noch nicht erkannt, um was es in Wirklichkeit geht. Die Flüchtlingsfrage steht auf einer Ebene mit der Außenpolitik, die immer mehr in die Gefahr des Nationalismus gerät. Wer Menschenrechtspolitik nicht mit dem Mund, sondern mit der Hand und dem Kopf macht, weiß, was für eine Strategie die Bundesregierung momentan fährt. Und die SPD hat eine Gegenstrategie noch nicht formuliert.

F: Sie sprechen von »noch«. Sehen Sie Ansatzpunkte für eine Entwicklung der SPD?

Die Flüchtlingsfrage ist für mich nur die Spitze eines Eisbergs. Wer sich dort falsch verhält, der nimmt in Kauf, daß wir eine nationalistische Bundesrepublik erhalten. Daß die Nationalfrage so in den Vordergrund gestellt den sozialen Bedingungen nutzt, das bestreite ich.

Die Diskussion um die nationale Frage, die Bundeskanzler Helmut Kohl fördert, ist für die BRD eine ganz schlechte Entwicklung. Weil sie Bürgerrechte einschränkt, die Reichen stärkt, die Armen gewissermaßen niederhält, weil sie Rassismus in den Städten hervorruft. Das gleiche kann man sehr deutlich ablesen im internationalen Rahmen.

F: Sie sagen, daß Flüchtlingspolitik und Rassismus die Spitze des Eisbergs seien. Politische Tendenzen seien daran klar abzulesen. Dennoch haben Sie sich, seit Sie wegen Ihrer Äußerungen unmittelbar nach dem Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße kritisiert wurden, nicht mehr dazu geäußert.

Ich bin auch lange nicht mehr danach gefragt worden.

F: Sie haben gegen die Lübecker Nachrichten einen Prozeß geführt, weil diese schrieben, Sie hätten in der Brandnacht gesagt, daß es Rechtsradikale waren. Warum war Ihnen so wichtig, sich von dieser Äußerung zu distanzieren?

Ich habe das so in der Tat nicht gesagt. Und das falsche Zitat zieht immer einen ganzen Rattenschwanz nach sich. Die Lübecker Nachrichten haben daraus gemacht: Du schadest der Stadt.

F: Es war in einem Kontext, in dem Sie - nicht nur in den Lübecker Nachrichten - stark kritisiert wurden für Ihren Appell, zivilen Ungehorsam zu leisten. Ihnen wurden gar disziplinarrechtliche Maßnahmen angedroht. Ging es Ihnen da nicht mehr um den Inhalt der Aussage als allein darum, daß das Zitat nicht stimmte?

Wenn Tatsachenbehauptungen aufgestellt werden, die offensichtlich unrichtig sind, dann muß das verhindert werden. Es ging mir am Anfang vor allem darum, die Frage des Verschuldens und der Täterschaft offenzulassen. Das habe ich auch so formuliert. Noch am Brandabend auf der Demonstration sagte ich, daß es hoffentlich von uns auszuhalten ist, daß wir im Augenblick die Täterfrage nicht gelöst haben. Und wie richtig der Ansatz war, beweist sich inzwischen. Ich habe keine Lust, mich von der einen oder anderen Seite eingemeinden zu lassen in dieser Frage.

F: Mittlerweile allerdings wird das Thema allgemein so behandelt, als wenn die Frage nicht mehr offen wäre. Es wird nur noch gegen Safwan Eid ermittelt, alle anderen Untersuchungen wurden eingestellt. Schließen Sie persönlich einen rechtsradikalen Hintergrund des Anschlages aus?

Es ist nicht so, wie Sie das beschreiben. Es gibt mit Recht diese unabhängige Untersuchungskommission. Ich habe sie hier im Rathaus empfangen. Es ist schon erstaunlich, was für Zweifel an der gesamten Rekonstruktion dieser Tat sich ergeben. Die bestehen auf der einen Seite bei dem Bild, das auf die Täterschaft von Safwan Eid schließen lassen soll. Problematisch sind allerdings auch die inzwischen durch Einstellungsbeschluß wohl nicht mehr aus der Sicht der Staatsanwaltschaft in Frage kommenden Grevesmühlener Jugendlichen. Deshalb ist es richtig, daß die Untersuchungskommission das auf diese Ebene hebt. Es ist nicht allein ein Lübecker Problem. Die Frage ist auch, wie sich die Gerichtsbarkeit mit diesem Thema beschäftigt.

Es wäre schlimm, wenn die Täterfrage am Ende ungeklärt bliebe.

F: Die Untersuchungskommission wurde gerade notwendig, weil den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen mißtraut wurde. Teilen Sie dieses Mißtrauen?

Ich glaube nicht, daß die Ermittlungen einseitig sind. Dann würde ich mich auch persönlich dazu äußern. Aber ich kenne die Akten nicht. Wenn die Ermittlungen einseitig wären, würde mich das sehr stark beunruhigen, weil ein solches Verhalten der Ermittlungsbehörden auch etwas mit Staatsräson zu tun hätte.

F: Inwieweit erkennen Sie hier die Gefahr der Staatsräson?

Von Staatsräson ist immer dann zu sprechen, wenn politische Justiz ansteht. In der Weimarer Zeit hat die Justiz eine sehr unheilvolle Rolle gespielt und wesentlich zum Faschismus beigetragen. Auch in Lübeck gab es entsprechende Gerichtsurteile. Gerade für dieses Thema, die Art und Weise, wie man Minderheiten in der Justiz behandelt, gibt es eine hohe Sensibilität.

F: Dennoch ist es ein Fakt, daß die Ermittlungen gegen andere Verdächtige eingestellt wurden und sich die Untersuchungskommission genau aus diesen Argumten heraus gegründet hat.

Zunächst hat sie sich gegründet, um der Sache das entsprechende internationale Ansehen zu geben. Sie hat niemals direkt gesagt, daß die Ermittlungen einseitig sind.

F: Die Ungereimtheiten, die es von Anfang an gab, haben sich immer mehr zugespitzt. Der Versuch, ein Motiv zu finden, ist gescheitert. Medial wurde es so verarbeitet: Safwan Eid ist der Täter. Wenn es die Kommission nicht gäbe, wäre zu befürchten, daß die Einseitigkeit bis zu einer Verurteilung weitergeführt würde.

Sie insistieren sehr stark auf diesem Fall. Ich werde mich für die Stadt darum bemühen. Nichts wäre schlimmer, als die Opfer zu Tätern zu stempeln. Darauf sollte man sein Augenmerk auch richten, weil ich weiß, wie Staatsräson wirkt. Es ist eine der schlimmsten, undemokratischsten Formen, die wir haben. Sie hängt von den Bewußtseinsstrukturen der Zunft ab. Ich weiß, wie die juristische Zunft entscheidet. Da ist nicht nur das Gesetz, sondern auch die Meinung der anderen. Oftmals ist der Richter oder Staatsanwalt nicht nur seiner eigenen Meinungsbildung unterworfen. Wir sind darauf angewiesen, wachsam zu sein. Aber wieviele Wachsame gibt es? Und wie unterdrücken wir sie?

F: Die Staatsanwaltschaft hat doch genau so agiert: Sie nimmt die Aussage eines einzelnen Deutschen und ignoriert demgegenüber die entgegenstehenden Aussagen von 30 Flüchtlingen.

Ich kann nur den Appell abgeben, der Bedeutung des Verfahrens gerecht zu werden. Ich sehe Schwächen in der Beweisführung gegen Safwan Eid. Entscheidend ist aber, wie das im Gerichtsverfahren beurteilt wird, denn da gehört es hin.

F: Die Kommentare in der deutschen Presse, von der taz bis zur FAZ, gingen stark in die Richtung, die Deutschen hätten einen Schuldkomplex.

Diese politische Dimension ist sehr wesentlich, weil das sehr in die Richtung der Realpolitik läuft, die ich mit Nationalismus gleichsetze. Mit dem Argument Schuldkomplex versucht man, die Problemlagen und Verursachungszusammenhänge in eine Richtung zu stecken, die relativ einfach ist: Es sind die anderen. Es sind nicht wir. Wir haben deshalb auch nichts zu veranlassen. Diese Richtung hat leider der Bundespräsident am Anfang gewiesen, indem er sagte: Wenn es Täter von außen sind, Rechtsextreme, dann ist meine Geduld am Ende. Damit hat er gesagt, wenn das Feuer innerhalb des Hauses verursacht wurde, dann sind die Flüchtlinge selbst schuld. Das knüpft an eine unheilvolle Tradition an: An die Tradition, daß der Staat - und die Rolle hat Herr Herzog übernommen - den Täter sieht und nicht die Situation, daß er selbst handeln muß. Seine Verantwortung wäre es, die Verhältnisse so zu ändern, daß solche Brandanschläge nicht mehr vorkommen. Ganz egal, ob sie von innen oder von außen kommen.

Die Reaktion von Herzog war: Der Täter war es, den müssen wir verfolgen. Dann müssen wir auch den Rechtsextremismus verfolgen. Nur: Daß der Rechtsextremismus im Zusammenhang steht mit den inneren Verhältnissen der Bundesrepublik, das scheint ihm entgangen zu sein.

F: Welche Strategie verfolgen die Medien?

Die veröffentlichte Meinung will sagen, daß alles in Ordnung ist. Damit ist dann auch eine nationalistische Politik, die wir im Augenblick betreiben, in Ordnung. Das ist die Strategie, die die Zeitungen verfolgt haben, die sagten: Das ist der deutsche Schuldkomplex.

Wir erzeugen Rassismus dadurch, daß wir im Bund eine nationalistische Politik machen. Wer diesen Zusammenhang negiert, der erzeugt mit und bejaht die menschenunwürdige Politik der BRD. Sie dient unserer Wirtschaft. Es geht nicht darum, den Menschenrechten zu dienen, sondern nur darum, Verträge für die Wirtschaft reinzuholen. Wer sie auf kommunaler Ebene durchsetzt, fördert den Rassismus.

F: Welche Rolle spielt für Sie darin der Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland?

Die Flüchtlingsfrage ist so wichtig, weil das Problem durch die internationalen Arbeitsmärkte verursacht wird. Herr Kohl setzt dabei auf nationale Konkurrenz, indem er sagt: Deutschland, Deutschland über alles. Er setzt alles durch, was das sogenannte deutsche Interesse ist, und das ist alles, was der deutschen Wirtschaft dient. Auch die deutsche Welt- und Europapolitik ist in diesem Sinne Armuts-

und Reichtumsprozesse fördernd, daß man sich nicht wundern muß, daß der BRD die Demokratie abhanden kommt. Flüchtlinge werden dadurch ausgegrenzt, Ausländer einer bestimmten Farbe und eines bestimmten Glaubens. Der nächste Schritt wird sein, daß man die Obdachlosen ausgrenzt, dann werden es die Arbeitslosen sein. Wenn das geschehen ist, und es ist kurz davor, daß man vier bis fünf Millionen Arbeitslose hinnimmt, dann haben wir den faschistischen Staat wieder.

F: Inwieweit sehen Sie Staatsräson im konkreten Fall?

Das nationale Interesse ist natürlich gegen die Flüchtlinge. Es gibt nur vier Prozent Anerkennungen von Asylsuchenden. Damit hat man doch alles schon gesagt. Will man wissen, was Staatsräson ist, muß man die Frankfurter Allgemeine Zeitung lesen. Dann lesen Sie auch, was die herrschenden Verhältnisse in der Bundesrepublik zu diesem Fall sagen.

F: Gerade Konrad Adam und Johann Reißmüller von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung haben sich besondere Mühe gegeben, aus angeblich falschen Vorwürfen gegen »uns, die Deutschen«, einen zweiten Aufguß des Historikerstreites loszutreten.

Leider nicht nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung, sondern auch die Zeit und der Spiegel.

Interview: Elke Spanner / Wolf-Dieter Vogel