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junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 6./7. 1996, Nr. 156, Seite 3, ansichten

K O M M E N T A R

>> Rettungsanker Prozeß

Die Entscheidung der Lübecker Jugendkammer, Safwan Eid den Prozeß zu machen, hätte nicht anders ausfallen können, obwohl sie auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint. In ihrer Begründung zur Aufhebung der Untersuchungshaft des libanesischen Flüchtlings hatte dieselbe Behörde nahezu alle einst so »zweifelsfreien Beweise« der Staatsanwaltschaft widerlegt. Weder bewiesen die bisherigen kriminalpolizeilichen Ermittlungen eindeutig, daß das tödliche Feuer im ersten Obergeschoß ausgebrochen sei, noch gebe es ein Motiv, das dem Beschuldigten unterstellt werden könne, heißt es in der Freilassungsbegründung. Auch jenes angebliche Geständnis, das Safwan Eid gegenüber einem Rettungssanitäter in der Tatnacht abgelegt haben soll, sei »nicht hinreichend sicher belegt«.

Trotzdem macht die Entscheidung, das Hauptverfahren jetzt zu eröffnen, für die staatlichen Behörden einen Sinn - vor allem, nachdem in den vergangenen Tagen die Glaubwürdigkeit des Sanitäters, des einzigen Belastungszeugen, erneut schwer gelitten hat. Hatte dieser schon nach dem Brandanschlag drei verschiedene Versionen des vermeintlich von ihm vernommenen Geständnisses zum Besten gegeben, so wurde jetzt eine weitere bekannt, die allen vorhergehenden widersprach. Hätte die Lübecker Jugendkammer nun den Prozeß nicht eröffnet - sprich das Verfahren gegen Eid eingestellt würde amtlich bestätigt, daß der Rettungssanitäter L. im besten Fall unzurechnungsfähig ist. Im ungünstigeren Fall sogar, daß er bewußt gelogen hat, um von einem rechtsradikalen Hintergrund der Tat abzulenken. Neue Hinweise in diese Richtung, denen die Verfolgungsbehörden nicht ausreichend nachgegangen sind, gerieten insbesondere in den vergangenen Tagen an die Öffentlichkeit.

Ein schlechtes Bild wäre mal wieder auf Deutschland gefallen. Ein Flüchtling, selbst Opfer des mörderischen Anschlages, sitzt aufgrund der Aussage eines »Zeugen« knappe sechs Monate in Untersuchungshaft, der dann kurzerhand abgekanzelt wird, weil er zur Gefahr werden könnte. Die rassistisch geprägten Ermittlungen wären deutlicher ins Rampenlicht geraten - hätte es doch nicht einmal mehr den Strohhalm gegeben, an dem sich die Staatsanwaltschaft jetzt durch die Inszenierung eines Prozesses zunächst noch festhalten kann. So können sich die Ermittler auch weiterhin der Forderung entziehen, Spuren nach Grevesmühlen weiterzuverfolgen, wie sie am Freitag erneut von der Internationalen Untersuchungskommission laut wurde. Schließlich bleibt doch, wenn auch ohne tragfähige Beweise, der Verdacht gegen Safwan Eid für die nächste Zeit erhalten.

Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit den staatlichen Behörden im Fall Lübeck ist zudem Skepsis angesagt, wenn die Verteidigerin Eids hofft, daß die »zahlreichen Widersprüche im Prozeß auf den Tisch kommen«. Das Verfahren läuft nicht gegen mecklenburgische oder andere Tatverdächtige, sondern gegen einen Flüchtling. Entsprechend ist zu befürchten, daß viele Spuren als für den Prozeß irrelevant nicht vom Gericht aufgegriffen werden. Wenn dann in einem halben Jahr die Unschuld Eids von der deutschen Justiz beglaubigt werden muß, wird die Suche nach anderen Tätern bereits unmöglich sein. Und wen wird dann noch interessieren, daß seit Beginn der Ermittlungen mehr Hinweise auf einen rechtsradikalen Hintergrund verweisen, als jemals gegen Safwan Eid aufgefahren wurden. Von den letzten, bis jetzt noch nicht verwischten Spuren ganz zu schweigen.

Wolf-Dieter Vogel