junge Welt, Donnerstag, 29. August 1996, Nr. 202, Titelseite
Von Jürgen Elsässer
Drei Tage vor der bislang verbotenen Demonstration antifaschistischer Gruppen in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) sind neue Fakten über das Ausmaß neonazistischer Gewalt und die Untätigkeit der Polizei in der Region bekanntgeworden. »Hier brennt seit viereinhalb Jahren die Luft«, resümierte Kreistagsabgeordneter Adolf Witteck (SPD). Sein Fraktionskollege Fritz Kalf berichtete gegenüber junge Welt, daß sich zwischen Grevesmühlen und Wismar »ein harter Kern von gewaltbereiten Neonazis« herauskristallisiert habe, dem die örtliche Bevölkerung keinen Widerstand mehr entgegensetze. (siehe auch Interview auf Seite 2). »Was tut die Polizei, was tut die Justiz?« fragte Kalf in einem Brief an den Kreistag besorgt.
Auf der Sitzung des »Ausschusses für Ordnung und Sicherheit« des Kreistages am Dienstagabend standen insbesondere die Vorgänge im Dorf Jameln zur Debatte, in dem die Nazis sich die gesamte Bevölkerung gefügig gemacht und Andersdenkende vertrieben haben (über ein Drittel der Bewohner sind in den letzten fünf Jahren weggezogen). Auszüge aus Kalfs schriftlicher Chronologie: »Am 19.April 1992 feierten in Jameln, in der Gemeinde Gägelow, 100 bis 120 rechtsradikale Jugendliche unter Führung der Familie Krüger den Geburtstag Adolf Hitlers. Sie versammelten sich vor dem Hause der Familie Gruszinski, da diese die einzigen im Dorf waren, die sich gegen die ständige Bedrohung und Belästigung zur Wehr setzten. Sie traten die Haustür ein und verwandelten das Auto des Bürgermeisters in ein Wrack. Obwohl die - natürlich sehr spät eintreffende - Polizei die Personalien der Täter aufnahm und genügend Zeugen vorhanden waren, sind die Ermittlungen heute - nach vier Jahren und vier Monaten - noch nicht abgeschlossen, und der die Interessen der Familie Gruszinski vertretende Rechtsanwalt hat noch keinen Zugang zu den Ermittlungsakten. Im Herbst 1995 gab die Familie Gruszinski dem Druck der kriminellen Banden nach und zog weg. Gruszinskis nahmen für den Kauf eines neuen Hauses einen hohen Baukredit auf, den sie mit dem Verkaufserlös des Hauses in Jameln zu tilgen hofften.«
Das ist jetzt nicht mehr möglich: In der Nacht vom 1. zum 2.August 1996 wurde das Gruszinski-Haus in Jameln völlig zerstört, am Morgen des 11. August zusätzlich in Brand gesteckt. Kalf vermutet einen Racheakt der Nazis gegen die mutige Familie. Das Verhalten der Polizei in der Brandnacht hat er ebenfalls protokolliert: Demnach fuhren gegen 23.45 Uhr »vier Streifenwagen nach Jameln, leuchteten das Gutshaus ab und stellten nichts fest. Sie fuhren also offensichtlich wieder beruhigt nach Grevesmühlen zurück. Das unmittelbar neben dem Gutshaus an der Straße stehende Haus Gruszinskis, von dem sowohl der Tür
als auch der Fensterrahmen herausgebrochen waren und - für jeden sichtbar - vor dem Haus lagen, wurde nicht beachtet. Begründung der Polizei: Wir hatten keine Suchscheinwerfer, und wir wußten nichts von den Vorgängen in Jameln.« Kalf fragt: »Ist das glaubhaft? Wer hat hier versagt? Nur die Einsatzgruppe oder auch die Führung der Polizei durch mangelnde Information?«
Die Vorwürfe Kalfs wies der Polizeichef des Landkreises, Walther Schuldt, auf der Ausschußsitzung am Dienstagabend zurück. Kalf »zieht eine Show ab, wie immer«, befand der aus dem Westen kommende Beamte. In Jameln handele es sich »um einen ganz normalen Nachbarschaftsstreit«. In der weiteren Debatte wurde die Sicht Kalfs aber von allen Ausschußmitgliedern (je zwei von SPD und PDS, einer von der CDU) unterstützt. Der Polizeichef sieht seine Version dadurch bestätigt, daß aus Jameln keine weiteren Zeugenberichte vorliegen. Ein Bewohner Jamelns dazu gegenüber jW: »Niemand aus dem Dorf wird eine Aussage machen. Wir haben alle Angst, daß uns dasselbe passiert wie Herrn Gruszinski.«
Die Veranstalter der antifaschistischen Demonstration in Grevesmühlen am kommenden Sonnabend (13 Uhr, ab Bahnhof) sehen in den neuen Fakten eine Bestätigung ihres Mottos »Den TäterInnen auf die Pelle rücken«. Ursprünglich sei dies eine Anspielung auf den Brandanschlag in Lübeck gewesen, von dem eine Indizienkette nach Grevesmühlen führt. Andererseits wolle man auch den wenigen, die sich der rechten Stimmung im Landkreis nicht beugen wollten, Unterstützung geben - so werde sich eine Wagenburg bei Grevesmühlen der Demonstration anschließen.
»Wir sind zuversichtlich, daß das Demo-Verbot morgen fällt; es wäre das erste Mal, daß der Paragraph 130 StGB - Volksverhetzung - gegen links angewendet wird«, sagte ein Sprecher des Demonstrationsbündnisses am Mittwoch.
(Siehe auch Seite 2)