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junge Welt, Montag, 2. September 1996, Nr. 205, Seite 5, inland

>> Die Polizei rettet Grevesmühlen

> Linke Demonstration mit Schlagstockeinsatz verhindert. 200 Teilnehmer festgenommen

Die Polizei setzte am Sonnabend in Grevesmühlen, Mecklenburg-Vorpommern, das Verbot einer Demonstration von Antirassismus-Initiativen mit einem massiven Einsatz durch. Die Demonstration war überwiegend von Gruppen aus dem antideutschen und antifaschistischen Spektrum, darunter auch Migrantengruppen, organisiert worden, um gegen den »rassistischen Grundkonsens« in Deutschland und für die Einstellung des Verfahrens gegen Safwan Eid, den bisherigen Hauptverdächtigen der Staatsanwaltschaft für den Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße, zu demonstrieren.

Nachdem das Verbot der Demonstration auch in der zweiten Instanz durch das Oberverwaltungsgericht Schwerin bestätigt worden war, trafen sich die Demonstranten zunächst in Lübeck. Die 400 bis 500 Teilnehmer konnten sich erst mit zweistündiger Verspätung formieren, da ein Bus und zwei Pkw aus Berlin von der Polizei im Vorfeld durchsucht wurden. Dabei wurde eine Person wegen angeblichen Waffenbesitzes verhaftet.

Die Lübecker Polizei zeigte sich zurückhaltend und ließ circa 250 Demonstranten um 16.40 Uhr ungehindert in einen Zug nach Grevesmühlen steigen. Als der Zug im Bahnhof der Kleinstadt einfuhr, wurde er von rund 50 einheimischen Jugendlichen mit Hitlergruß empfangen.

Die Demonstranten, die sich in einem Kessel von sieben Hundertschaften der Polizei plus SEK-Einheiten wiederfanden, gaben sofort per Megaphon bekannt: Sie wollten eine Spontankundgebung gegen das Verbot abhalten, sie würden sich nicht zu einer Demonstration formieren und den nächsten Zug 20 Minuten später zurück nach Lübeck nehmen. Ein Organisator, der die Kundgebung anmelden wollte, wurde mit den Worten »Verpiß dich« vom Einsatzleiter zurückgewiesen. Praktisch im selben Moment wurde ohne Vorwarnung der Befehl zur gewaltsamen Auflösung der Demonstration gegeben. Die Kundgebung wurde auseinandergeprügelt, obwohl sich die meisten Teilnehmer defensiv verhielten und sich ohne Gegenwehr festnehmen ließen. Die Demonstranten wurden zum Abtransport in Plastikhandschellen auf den Bahnhofsvorplatz geführt.

Das ganze Geschehen wurde von zahlreichen Schaulustigen beifällig beobachtet, unter denen sich zahlreiche Jugendliche befanden, die augenscheinlich alle der rechten Szene zuzuordnen waren. Als verschiedene Pressevertreter begannen, sich den Gaffern zuzuwenden, nahm die Polizei zwei Neonazis fest, die schon am Vormittag einen Platzverweis erhalten hatten. Dies wurde von den eingekesselten Demonstranten mit den Rufen »Alibi! Presseschau!« kommentiert.

Über 200 Demonstranten wurden unter dem Applaus der umherstehenden Menge in die Gefangenen-Sammelstelle, eine Schul-Turnhalle, gebracht. Sowohl während des Transports als auch in der Turnhalle kam es, so berichteten hinterher die Freigelassenen gegenüber jW, zu weiteren Übergriffen. Auf einer Pressekonferenz der Polizei am Abend leugnete Einsatzleiter Hinrich Alpen, daß es einen Schlagstockeinsatz gegeben habe. Den Versuch der Organisatoren, die Kundgebung noch anzumelden, bezeichnete er als »nicht relevant«. Ein Anlaß für die Massenfestnahme sei eine Meldung aus Lübeck gewesen, die Demonstranten hätten Steine ausgegraben; einen entsprechenden Beweis blieb die Polizei schuldig.

Als die ersten Demonstranten unter Polizeischutz gegen 1 Uhr Grevesmühlen verließen, wurden sie von einheimischen Jugendlichen mit Hitlergruß verabschiedet.

Philipp Thiée/Tjark Kunstreich