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junge Welt, Donnerstag 16. Januar 1997, Nr. 13, Seite 3,ansichten

>> Wie wollen Sie ein Bleiberecht durchsetzen?

> jW sprach mit Michael Bouteiller, Bürgermeister der Hansestadt Lübeck

F: Im Rahmen einer Kampagne des Lübecker »Runden Tisches« haben Sie sich für ein Bleiberecht der Überlebenden des Lübecker Brandanschlages ausgesprochen. Welchen Spielraum haben Sie als Bürgermeister, um solche Forderungen umzusetzen?

Einen denkbar geringen, weil die Sache am Landes- und am Bundesinnenminister hängt. Aber auch einen denkbar großen, was die Möglichkeit angeht, Druck auszuüben, damit sich das Ermessen der beiden positiv verändert. Und ich kann dazu beitragen, daß die politische Aktion so weit kommt, daß, sollten die Gesetze nicht vorsehen, was wir wollen, eben diese Gesetze geändert werden.

F: Sie haben Bundesinnenminister Manfred Kanther und seinen schleswig-holsteinischen Kollegen Ekkehardt Wienholtz aufgefordert, humanitäre Regelungen zu finden. Wie könnten diese von seiten der Ministerien aussehen?

Man müßte den Betreffenden eine Aufenthaltserlaubnis erteilen. Von den 38 Überlebenden haben 34 einen relativ ungesicherten Status. Im Rahmen des Ausländergesetzes kann man allen 38 ein Bleiberecht gewähren.

F: Im Ausländergesetz ist allerdings kein Bleiberecht vorgesehen.

Darüber streiten sich im Augenblick die Gelehrten. Aber ich lasse das mal dahingestellt, weil ich ich keine juristische Diskussion will.

F: Herr Wienholtz hat sich bisher nicht eindeutig positioniert. Er hat auf Recht und Gesetz hingewiesen und erklärt, er habe in dieser Sache keine Einwirkungsmöglichkeit. Sie setzen trotzdem auf ihn?

Er hat gesagt, daß er sich für die Flüchtlinge einsetzen werde, aber immer individuell, sprich mittels Einzelfall-Prüfung, und im Rahmen des Gesetzes.

F: Wenn also gesetzliche Regelungen gefunden werden könnten, stünde dem auch Herr Wienholtz offen gegenüber?

Ich glaube nicht, daß man ihm vorwerfen darf oder auch nur vorwerfen kann, daß er sich nicht für die humanitäre Situation der Brandhinterbliebenen einsetzt. Er hat dem Bundesinnenminister eindeutig geschrieben, daß er im Rahmen einer rechtlichen Regelung einverstanden wäre.

F: Eine Zustimmung von Kanther gibt es aber nicht.

Nein, die gibt es nicht. Der Bundesinnenminister sagt, er will keinen Präzedenzfall schaffen.

F: Gehen wir mal davon aus, daß Kanther bei seiner Haltung bleibt. Welche Maßnahmen wären dann angesagt?

Ich rechne damit, daß das nicht das letzte Wort des Innenministers und erst recht nicht des Bundesinnenministers sein kann. Es gibt viele Möglichkeiten, rechtlich den Zustand herzustellen, den wir wollen. Das ist in der Vergangenheit auch gelungen. Aber sollte in der Tat eklatant ein entsprechendes humanitäres Recht fehlen, dann ist dieses Ausländergesetz verfassungswidrig. Schließlich ist die existentiell schlechte Lage der Hinterbliebenen so offensichtlich, daß dann ein Recht - das Verfassungsrecht - mißachtet wird. Und eine solche Lücke schließt man, indem man das Gesetz ändert.

F: Zu befürchten ist allerdings, daß man im konkreten Fall nicht auf Gesetzesänderungen warten kann.

Sicher müssen die Leute Zivilcourage üben. So existentiell, wie die Situation ist, kann dann ziviler Ungehorsam ein legitimes Mittel sein.

F: Was wäre der nächste Schritt? Kirchenasyl?

Das entscheide nicht ich, sondern die Kirchen. Das allerwichtigste ist im Augenblick, die Situation darzustellen und die Öffentlichkeit für diese 38 Flüchtlinge zu gewinnen. Wenn uns das nicht gelingt, dann ist der nächste Schritt, das Gesetz gegebenenfalls zu ändern, aussichtslos.

F: Nun sind die Lübecker Flüchtlinge auch nur Einzelfälle. Was müßte im Rahmen Ihrer Möglichkeiten getan werden, um die Bedingungen für Asylbewerber und Asylbewerberinnen generell zu verbessern?

Wir wären einen tüchtigen Schritt weiter, wenn angesichts dieser ausweglosen Situation, wie sie zumindest vom Innenminister und dem Bundesinnenminister dargestellt wird, ein Gesetz geändert wird. Es müßte ein Ausnahmetatbestand geschaffen werden, der der Lage dieser Flüchtlinge Rechnung trägt. Dann gelten humanitäre Gründe nicht nur für die 38, sondern für alle. Wenn das gelingt, dann ist das Ohr der Menschen und auch das der Politik wieder offen. Dann kann die Diskussion wieder beginnen. Im Augenblick ist das nicht der Fall.

F: Sie haben am Dienstag vom »barbarischen Asylrecht« gesprochen ...

F: Es gibt vor der Schwelle zum 21. Jahrhundert eine heftige Diskussion über Modernität und Barbarei, nicht nur im Bereich des Flüchtlingsrechts. Als barbarisch bezeichne ich ein Recht, das der zivilen Gesellschaft in unserem Lande, einem der reichsten auf der Welt, im moralischen Sinne nicht gerecht wird. Dieses Flüchtlingsrecht ist ein Rückfall noch vor das 19. Jahrhundert. Wir müssen das ändern, wenn wir uns ins Gesicht sehen wollen, innenpolitisch wie auch außenpolitisch. Das weiß aber jeder, und ich will die Diskussion im Augenblick nicht belasten. Wenn gesagt wird, der Bouteiller ist für eine Änderung des Asylrechts, geraten wieder die menschlichen Problemlagen, die wir im Augenblick haben, aus der Sicht. Und im Moment sind wir es einfach den Brandhinterbliebenen schuldig, ihnen zu helfen.

Interview: Wolf-Dieter Vogel

(Siehe auch Seite 5)