junge Welt, Nr. 18, Montag, 22. Januar 1996, Titelseite
Von Wolf-Dieter Vogel
Eine Nation darf wieder aufatmen. »Nach dem jetzigen Sachstand ist eine Brandlegung innerhalb des verschlossen gewesenen Hauses anzunehmen.« Die Botschaft des Lübecker Polizeisprechers am Sonntagmorgen ist eindeutig. Kein Brandanschlag durch »hausfremde Personen«, nein, Streit unter den BewohnerInnen »zwischen Arabern und Afrikanern«, mutmaßen die Ermittler seien der Hintergrund für das Feuer im Asylbewerberheim in der Hafenstraße, durch das am Donnerstag zehn Menschen ums Leben kamen.
Auch einen Schuldigen konnten Staatsanwaltschaft und Polizei vorweisen: Vermutlich gemeinsam mit bisher unbekannten Tätern habe ein Libanese das Feuer gelegt. Der Tatverdächtige, der mit seiner Familie in dem Haus gewohnt hatte, habe schon in der Brandnacht Einzelheiten berichtet, die sich inzwischen durch die kriminaltechnischen Untersuchungen bestätigten. Nach den Worten des Oberstaatsanwaltes Klaus-Dieter Schulz soll der 21jährige einem Feuerwehrmann damals den genauen Ort des Brandausbruchs im ersten Stockwerk mitgeteilt haben. Zudem habe er diesem gegenüber in der Nacht zugegeben, »Wir waren's«.
Der Vater des Verdächtigten ist skeptisch. »Die haben uns unter Verdacht, und die wahren Mörder lassen sie laufen«, sagte er am Samstag den Lübecker Nachrichten. Die Beweislage sei »arg dünn«, kritisierte auch der Verteidiger des Beschuldigten, Hans-Jürgen Wolter, im selben Blatt. Die beiden Brüder des Beschuldigten waren ebenfalls vernommen, später aber wieder freigelassen worden.
Ob die radikale Kritik an der deutschen Asylpolitik, wie sie vom Lübecker Bürgermeister Michael Bouteiller formuliert wurde, weiterhin Gehör finden wird, ist fraglich.
Bei Christoph Kleine vom »Bündnis gegen Rassismus« überwiegen die Zweifel. »Sind nicht nach all den Anschlägen, die sich in den Jahren in Lübeck ereignet haben, radikale Konsequenzen angekündigt worden?«, fragt er vor den rund 4 000 TeilnehmerInnen einer Demonstration am Samstag in Lübeck. »Die meisten Flüchtlinge können über Schikanen durch Lübecker Behörden viel berichten.« Auch nach Meinung der Bündnisgrünen muß sich die Flüchtlingspolitik grundsätzlich ändern. Mit Zählappellen vor Sozialämtern und der Einführung von Sachleistungen würden die ausländischen MitbürgerInnen ausgegrenzt. Gegen Rechtsradikalismus, besonders aber gegen die unzumutbaren Zustände in Asylbewerberheimen gingen am Wochenende auch in anderen Städten Menschen auf die Straße.
Daß zumindest das Ausmaß der Katastrophe entscheidend mit den »Wohn«verhältnissen der AsylbewerberInnen zusammenhängt, wollte am Wochenende selbst der CDU-Bundespolitiker Heiner Geißler nicht leugnen. »Wir müssen dafür sorgen, daß diese Menschen nicht in Häusern kaserniert werden, die offenbar baufällig sind und lichterloh innerhalb von wenigen Minuten abbrennen«, sagte er dem Nachrichtensender N-TV. Für den Sprecher von pro asyl, Heiko Kauffmann, läßt die »erschreckende Häufung "technischer Defekte" bei Bränden in Flüchtlingsunterkünften auf strukturelle Defizite im Umgang mit Flüchtlingen schließen«. Gefordert seien jetzt die Auflösung großer Sammelunterkünfte und lagerähnlicher Behausungen sowie die Unterbringung von AsylbewerberInnen in angemessenen Wohnungen und ihre Integration in Wohnviertel. Bürgermeister Bouteiller verlieh denselben Forderungen erneut Nachdruck, nachdem ihm die Presse am Wochenende »Voreiligkeit« in seiner politischen Bewertung der Brandkatastrophe vorgeworfen hatte: Der Massenunterbringung von AsylbewerberInnen müsse ein Ende gesetzt werden. Sollte der Staat dem Hindernisse entgegensetzen, sei »ziviler Ungehorsam« angebracht. Christoph Kleine vom »Bündnis gegen Rassismus« wurde konkreter: »Wir erwarten von der Stadt Lübeck und von jedem einzelnen Mitarbeiter beispielsweise im Ordnungsamt, daß keinerlei Handlangerdienste für Abschiebungen mehr geleistet werden! Jeder Schritt darunter ist unzureichend.«
(siehe auch Kommentar auf Seite 3)