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junge Welt, Dienstag, 23. Januar 1996, Nr. 19, Titelseite

>> Mauern um die Ruine

> Lübeck: Behörden halten sich bedeckt.

Von Charlotte Spielmann und Wolf-Dieter Vogel

Auch vier Tage nach dem Brand des Asylbewerberheimes in der Lübecker Hafenstraße bleiben die Hintergründe des tödlichen Vorfalls im Dunkeln. Weiterhin beruhen die Tatvorwürfe gegen einen Libanesen, der sich selbst während dem Ausbruch des Feuers im Dachgeschoß des Gebäudes aufgehalten hatte, ausschließlich auf den Aussagen eines Feuerwehrmannes.

Der 21jährige Asylbewerber habe diesem gegenüber so die Darstellung der Staatsanwaltschaft »Wissen mitgeteilt, über das nur ein Täter verfügen kann«. Bei der zuständigen Feuerwehr ist darüber nichts zu erfahren »Nachrichtensperre« heißt es dort auf Anfrage. Der Feuerwehrmann, ein Rettungssanitäter, hatte sich erst einen Tag nach dem Brand bei der Polizei gemeldet. Er habe gedacht, er unterliege einer Schweigepflicht, erklärt Staatsanwalt Michael Böckenbauer am Montag. Der Zeuge, der im Laufe des Montags vernommen werden sollte, will von dem Libanesen den Satz »Wir waren's« gehört haben nach den Worten seines Rechtsanwalts Hans-Jürgen Wolter hingegen soll der 21jährige »Sie waren's« gesagt haben.

Nicht weniger widersprüchlich ist das mutmaßliche Tatmotiv. Es sei möglich, daß es eine Konfliktsituation im Haus gegeben habe, hatte der leitende Kriminaldirektor Tabarelli am Sonntag geäußert. Außer ihm aber hatte bislang offenbar niemand etwas von etwaigen Streitigkeiten mitbekommen. Der Betreuer Labitzky, Mitarbeiter des Diakonischen Werkes, das auch das abgebrannte Heim betrieb, schildert den Tatverdächtigen Libanesen als »besonnen«.

Rechtsanwalt Wolter wirft der Behörde vor, mit der Annahme eines geschlossenen Hauses ginge sie von falschen Tatsachen aus. Die Familie E. habe ihm gesagt, daß die Scheibe der Haustüre seit Monaten kaputt gewesen sei, teilte er den Lübecker Nachrichten mit.

Nach wie vor hängt auch die Entlastung der drei am Wochenende wieder freigelassenen Tatverdächtigen ausschließlich an Aussagen von Polizei und Bundesgrenzschutz.

Während der jetzt Beschuldigte selbst auch am Montag jede Tatbeteiligung bestritt, haben die Ermittler Zeugen aus dem gesamten Umfeld des verhafteten Libanesen befragt. »Es geht dabei auch um die Suche nach möglichen Mittätern«, betonte ein Polizeisprecher. Die Spurensuche in der Brandruine wurde unterdessen abgeschlossen. Die Auswertung des sichergestellten Materials werde »noch einige Zeit« in Anspruch nehmen.

Massive Kritik an den bisherigen Ermittlungen hat die Medien und Verlagswerkstatt »Querblick« aus Konstanz geübt. Dem von Polizei und Staatsanwaltschaft als wahrscheinlichem Brandstifter präsentierten Libanesen sei »mit zwei Tagen Verspätung von einem Sanitäter ein Tatgeständnis in den Mund gelegt worden«, heißt es in einer am Montag verbreiteten Stellungnahme der Medienwerkstatt. Nach deren Recherchen haben die Behörden nach Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte mehrfach die Opfer in Haft genommen, nicht weiter nach den wahren Tätern ermittelt und die Verfahren »dann in aller Stille« eingestellt.

So wurde bei einem Brandanschlag auf ein von Ausländern bewohntes Haus am 5. Juni 1993 in Hattingen gegen die Opfer ermittelt. Obwohl nach Berichten der Tagespresse zur Tatzeit drei junge Männer, einer von ihnen Angehöriger der örtlichen Skinheadszene, in unmittelbarer Nähe des Hauses gesehen wurden, ließen die Behörden die Ermittlungen gegen Fremdtäter schnell fallen. Daß der stellvertretende Landesvorsitzende der mittlerweile verbotenen rechtsextremistischen FAP, Axel Zehnsdorf, in direkter Nachbarschaft wohnte, sei reiner Zufall. Trotz der widerprüchlichen Beweislage gegen die Bewohnerin, Frau Ünver, die sich mit ihren fünf Kindern aus dem Schlafzimmerfenster retten konnte, erhob die Essener Staatsanwaltschaft im März 1994 gegen sie Anklage wegen schwerer Brandstiftung und Vortäuschung einer Straftat. Nach Ansicht des Rechtsanwaltes von Familie Ünver stellt das Vorgehen der Staatanwaltschaft schon vor dem Prozeß, der in den nächsten Wochen in Essen beginnt, einen weiteren Angriff auf ein Opfer rassistischer Gewalt dar.