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junge Welt, 24. Januar 1996, Nr. 20, Titelseite

Nachrichtensperre bei Ermittlungen zum Brand in Lübeck erlassen.

Von Wolf-Dieter Vogel

Medien am Brennpunkt

Wir geben keine weiteren Informationen«, weist Detlev Hardt, Sprecher der Polizeidirektion, Fragen der jungen Welt zum Brand in dem Lübecker Asylbewerberheim zurück: »Nachrichtensperre«. Seine Behörde sowie die Staatsanwaltschaft haben am Dienstag gemeinsam beschlossen, weder schriftliche noch mündliche Mitteilungen zum Stand der Ermittlungen weiterzugeben. Unmittelbarer Auslöser dieser Maßnahme war ein Bericht in der ZDF-Sendung »Heute« vom Montagabend, in der Gustave S., nach Polizeiangaben ein Bewohner des Hauses in der Hafenstraße interviewt wurde. Der Schwarzafrikaner bestritt in der Sendung, daß er Streit mit dem Libanesen Safoan E. gehabt habe. Gegen den 21jährigen Safoan E., der mit seiner Familie in dem Asylbewerberheim wohnte, war am Samstag Haftbefehl wegen des dringenden Tatverdachts auf zehnfachen Mord, versuchten Mord in 18 Fällen und besonders schwerer Brandstiftung ergangen.

Mit den Aussagen des Zeugen Gustave S. bricht die bisherige Behauptung der Verfolgungsbehörden zusammen, das Tatmotiv des Beschuldigten Safoan E. seien interne Auseinandersetzungen »zwischen Afrikanern und Arabern« gewesen. Laut einer Kopie des Haftbefehlsantrages, die dem ZDF offensichtlich zugespielt wurde, soll Safoan E. nach einem Streit mit einem Mitbewohner diesem aus Rache Benzin vor dessen Wohnungstür geschüttet und angezündet haben. Gustave E. jedoch, der in dem Schreiben genannt wird, weiß nicht nur nichts von besagtem Streit. Er wohnte nicht einmal in dem Lübecker Asylbewerberheim, sondern habe dort nur seine Cousine besucht. Das zumindest sagte der Schwarzafrikaner dem ZDF. Polizei und Staatsanwaltschaft der Hansestadt reagierten schnell. Aus Gründen der »Gefährdung des Ermittlungszweckes«, so behaupten die Behörden, nähmen sie keine Stellung zu Äußerungen von möglichen Zeugen gegenüber den Medien. Bei Interviews mit potentiellen Zeugen bitten die Ermittler die Medienvertreter, sich »Zurückhaltung aufzuerlegen«.

»Auch wir hatten Informationen, die wir aber bewußt zurückgehalten haben«, erklärt Manfred Rücher, Redakteur der Lübecker Nachrichten der jW und zeigt Verständnis für die Entscheidung der Verfolgungsbehörden. »Auf der Suche nach neuesten Infos betreiben die Journalisten hier eine reine Hetzjagd. Jeder, der nicht nach einem Europäer aussieht, wird als potentieller Zeuge befragt.« Der ZDF-Redakteur Fuhrmann, der Gustave S. interviewt hatte, ist anderer Meinung. Er hält die Nachrichtensperre für eine eindeutige Reaktion auf seinen Bericht. »Die Staatsanwaltschaft weiß, daß ein Teil der Informationen im Haftbefehl, nicht nur bezüglich des Streites,nicht stimmt.«

Der aus Zaire stammende Sprecher der Afrikanischen Gemeinschaft, Bacar Gadji, forderte am Dienstag die Reporter auf, Angehörige der Opfer in Ruhe zu lassen. Nicht ohne Grund. So versucht beispielsweise der stern, mit dem »Fall Lübeck« seine Verkaufszahlen zu steigern. Der Libanese »könnte« das Feuer aus Eifersucht gelegt haben. Das Hamburger Magazin stellt fest, die drei Brüder der Familie E. hätten sich am Vorabend im Fernsehen ein Eifersuchtsdrama angesehen, bei dem es Tote gegeben habe. Safoan E., weiß der stern, habe eine »enttäuschte Liebe« hinter sich. Nach dem blutigen Fernsehdrama dann habe sich der eigentlich ruhige Safoan E. nicht mehr unter Kontrolle gehabt.

Trotzdem macht die Nachrichtensperre zu diesem Zeitpunkt stutzig

zumal die Behörden genau wissen, daß durch eine solche Informationsverweigerung das Jagen nach neuen Schlagzeilen in der Hansestadt erst recht zunehmen wird. Keine der bisherigen Entscheidungen aufgrund der Ermittlungsergebnisse, weder die Entlastung dreier zunächst deutscher Tatverdächtiger noch die Verhaftung von Safoan E. stehen bislang auf glaubhafter Grundlage. Von einem Streit zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen des Hauses beispielsweise weiß auch Bacar Gadji nichts. Im Gegenteil, »die Atmosphäre war freundlich«, sagte er der jW. Ähnlich hatte sich am Montag auch ein Betreuer des Heimes gegenüber unserer Zeitung geäußert. Ausschließlich die Verfolgungsbehörden haben bisher gegenteilige Behauptungen aufgestellt. Und auch zu versuchten Brandanschlägen auf das Asylbewerberheim im vergangenen Jahr, von denen die Bewohner und Bewohnerinnen berichtet hatten, wollten sich die Ermittler auf Anfrage nicht äußern. »Nachrichtensperre«.

Siehe auch Interviews Seiten 2 und 3