junge Welt, Donnerstag, 8. Februar 1996, Nr. 33, Seite 3, Ansichten
F: Sie haben am Dienstag an der Trauerfeier für die Opfer der Lübecker Brandkatastrophe teilgenommen. Waren Sie bewegt von dem Gottesdienst?
Es war ein würdevoller Gottesdienst. Es ist etwas Schreckliches passiert - zehn Menschen haben ihr Leben unter furchtbaren Umständen verloren, es gibt zahlreiche Verletzte und das ist ein Anlaß zur Trauer. Mein Mitgefühl gilt auch den Angehörigen der Opfer.
F: Von der Rede des Lübecker Bürgermeisters Michael Bouteiller (SPD) waren Sie aber nicht so begeistert?
Herr Bouteiller wirft immer wieder Vokabeln in die Diskussion ein, wie etwa »ziviler Ungehorsam«. Ich halte das nach wie vor für unangemessen. Allerdings war seine Rede am Dienstag schon deutlich maßvoller als die Reden, die er unmittelbar im Anschluß an die Brandkatastrophe gehalten hat.
F: Bouteiller hat bei der Trauerfeier von »Zivilcourage« gesprochen, die die Bürger aufbringen sollten gegen die Abschiebung von Asylbewerbern. Damit hat er sich tatsächlich etwas zurückgenommen.
Es ist mittlerweile schwer zu erkennen, was Herr Bouteiller eigentlich meint. Seine ursprünglichen Äußerungen waren völlig unmißverständlich: der Aufruf zum Bruch des geltenden Rechtes. Der Landesinnenminister hätte ein Disziplinarverfahren einleiten müssen.
F: Also fordern Sie nach wie vor Konsequenzen für Bouteiller?
Der Innenminister hat ein Stück Glaubwürdigkeit verspielt, als er es abgelehnt hat, ein Disziplinarverfahren zu eröffnen. Offenbar ist ihm Parteisolidarität wichtiger als Rechtstaatlichkeit.
F: Hat Bouteiller nicht recht damit, wenn er sagt, auch diese
nach wie vor ungeklärte
Brandkatastrophe, könne nicht zusammenhanglos zum geltenden Asylrecht gesehen werden?
Bislang sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen. Ein Haftrichter hat das Beweismaterial geprüft, und der Libanese Safwan E. ist nach wie vor dringend tatverdächtig. Zur Unterbringung von Asylbewerbern: Herr Bouteiller hat unmittelbar nach dem Geschehen falsche Hoffnungen erweckt, als er zum Ausdruck gebracht hat, man müsse die Einzelunterbringung von Asylbewerbern zur Regel machen.
F: Halten Sie die Forderung
gerade nach den schweren Brandanschlägen von Neonazis in der Vergangenheit und unabhängig davon, was bei diesem Brand das Ermittlungsergebnis sein wird
für unberechtigt?
Ich bin der Ansicht, daß die Gemeinschaftsunterbringung, die nur in den ersten drei Monaten vorgeschrieben ist, auch erhebliche Vorteile mit sich bringt, etwa was die Betreuung angeht. Die Einzelunterbringung ist im Einzelfall nach drei Monaten möglich, und sie soll auch dort vorgenommen werden, wo es gewichtige Gründe dafür gibt. Insofern plädiere ich dafür, daß Ausländer und Deutsche gleichbehandelt werden. Wir haben beim Wohnungsamt hier in Lübeck zahlreiche Dringlichkeitsfälle
auch von Deutschen.
F: Sollte die Abschiebung von Angehörigen der Opfer der Brandkatastrophe generell ausgesetzt werden?
Nein. Wir haben einen Asylkompromiß auf Bundesebene erreicht. Nun versuchen SPD-geführte Bundesländer, diesen Asylkompromiß zu unterlaufen. Sie verhängen generelle Abschiebestopps für die sogenannten Altfälle. Aber auch unser gegenwärtiges Asylverfahrensrecht sieht Abschiebehindernisse vor und gibt auch die Möglichkeit einer individuellen Prüfung, und so sollte verfahren werden.
F: Dann gehen wir mal auf die individuellen Fälle ein: Die Mutter eines der Todesopfer, die des Libanesen Rabia El Omari, kann ihren Sohn wahrscheinlich nicht in ihrer Heimat beerdigen, weil die deutschen Behörden ihr, da sie keinen Paß besitzt, die Wiedereinreise in die Bundesrepublik verweigern würden. Wäre denn nicht wenigstens hier ein etwas souveränerer Umgang mit den Gesetzen angebracht?
Es ist bereits eine Ausnahmeregelung getroffen worden. Normalerweise wäre es der Regelfall, daß eine Wiedereinreise in diesem Fall nicht möglich wäre. Hier ist aber eine Ausnahmeregelung getroffen worden. Niemandem wird die Wiedereinreise verwehrt werden.
F: Nach Auskunft des Diakonischen Werkes stimmt das nicht, und noch einige weitere Fälle sollen ungeklärt sein.
Die Auskunft, die mir erteilt worden ist und die auch öffentlich gemacht worden ist, ist die, daß hier eine Ausnahmeregelung getroffen worden ist. Ich höre das nun zum ersten Mal, daß hier Schwierigkeiten bestehen sollen.
F: Sie sind der Auffassung, daß aus der Brandkatastrophe keine politischen Konsequenzen zu ziehen sind?
Eine endgültige Bewertung kann erst dann vorgenommen werden, wenn der Tathergang wirklich gerichtsfest geklärt worden ist.
F: Warum?
In menschlicher Hinsicht muß man natürlich von einer Tragödie sprechen. Aber als Jurist kann ich einen Sachverhalt nur dann bewerten, wenn er geklärt ist.
F: Nun unterhalten wir uns ja weder auf der menschlichen noch der juristischen Ebene. Eine politische Bewertung können Sie vermutlich doch vornehmen?
Der Asylkompromiß in Bonn ist nach einem sehr langen Beratungsprozeß zustandegekommen. Und ich warne dringend davor, den jetzt in Frage zu stellen.
F: Aber der Asylkompromiß ist rechtlich so wackelig, daß das BVG ihn demnächst kassieren wird
in diese Richtung gehen zumindest auch die Erwartungen der Unionsparteien.
Der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts bleibt abzuwarten. Es ist kritisch anzumerken, daß die BVG
Präsidentin, Jutta Limbach (SPD), sich mit bewertenden Äußerungen bereits zu Wort gemeldet hat. Das wirft in der Tat die Frage auf, wie unbefangen das Verfassungsgericht an die Prüfung des Gesetzes herangeht. Aber der Spruch des Bundesverfassungsgerichts ist in jedem Fall zu respektieren.
Interview: Benedikt Pauka