junge Welt, Montag, 19. Februar 1996, Nr. 42, Seite 5, inland
"Mein Bruder ist ein vernünftiger Mensch; er spielt nicht mit Feuer,« erklärte Mohammed E., der Bruder des Beschuldigten Safwan E. auf einer Veranstaltung an der Hamburger Universität. Erstmals wandten sich die Flüchtlinge, die bis zum Brandanschlag vom 18. Januar in der Lübecker Hafenstraße wohnten, am Freitag direkt an die Öffentlichkeit. Sie wiesen Behauptungen der Staatsanwaltschaft, nach denen es im Haus »ethnische Konflikte« gegeben habe, entschieden zurück.
Gemeinsam forderten sie die Freilassung von Safwan E. Mit allen Mitteln versuche die Polizei, ihre Version in den Ermittlungen durchzusetzen. Zunächst seien sie wie Zeugen, nach der Festnahme von Safwan E. dann wie Verdächtige behandelt worden, erklärten die Betroffenen. Verhöre fänden in der Regel ohne Rechtsbeistand statt. Die Polizei komme einfach in deren Unterkunft und hole sie zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Verhören ab. Im Vordergrund der Befragungen stehe immer die These von angeblichen Konflikten unter den Bewohnern. Auch Kinder würden suggestiv befragt, um belastendes Material gegen den Beschuldigten Safwan E. zu sammeln.
Gustave S., dessen angeblicher Streit mit dem Libanesen der Grund für die Brandstiftung gewesen sein soll, berichtete, er sei mehrfach verhört worden. Mit keinem Wort habe er Safwan E. belastet. Die Polizei habe ihn gefragt, warum er zunächst andere und dann erst seine eigenen Kinder aus dem Feuer gerettet habe oder welche Farbe das Feuer gehabt hätte.
Betroffene berichten auch von einer verdeckten Ermittlerin, die sich als Freundin eines der Todesopfer ausgebe. Vor allem Frauen und Kinder seien von ihr nach Kinderpornos befragt worden, die angeblich im Haus gedreht worden sein sollen.
Während die Aussage eines einzigen Sanitäters ausreiche, seinen Bruder weiterhin in Untersuchungshaft zu halten, kritisierte Mohammed E., »werden die Aussagen von 30 Flüchtlingen, die Safwan entlasten, ignoriert«. Er habe in der Nacht noch ferngesehen, während sein Bruder bereits schlief. Später seien sie wie andere Bewohner von Hilferufen geweckt worden und auf das Dach geklettert. Safwan E. habe dabei anderen geholfen.
Insgesamt ergibt sich aus den Berichten der Flüchtlinge ein vollkommen anderes Bild des Geschehens, als die offizielle Version Glauben machen will: Die Polizei sei zwar fast von Anfang an vor Ort gewesen, habe aber erst eingegriffen, nachdem die Feuerwehr eingetroffen sei. Bis dahin, beschrieb ein Flüchtling, hätten sich die Polizisten darauf beschränkt, sie vom Grundstück fernzuhalten. Schon in der Nacht seien sie ohne Rücksicht auf ihre psychische und physische Verfassung getrennt verhört worden. Jeder und jede könne plötzlich verdächtigt werden, brachten die Flüchtlinge ihre Befürchtungen zum Ausdruck. Das sei die Strategie, um von der Verantwortung Deutschlands abzulenken.
Immer noch hätten sie keine neuen Wohnungen, informieren die Flüchtlinge. Jene, die einige der Toten nach Zaire begleiteten, hätten am Tag ihrer Abreise Abschiebungsbescheide bekommen. Von der Zusage eines Daueraufenthaltsrechts durch den Lübecker Bürgermeister Michael Bouteiller sei jetzt nicht mehr die Rede. Auch dies sei eine Folge der offiziellen Version des Brandes.
Eine andere Folge bekamen die rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung am Freitag zu spüren, als von außen versucht wurde, ein Fenster des Hörsaals der Hamburger Universität - vermutlich mit einem Stahlgeschoß - zu zerstören. Der afrikanische Hamburger Dachverband Sokoni hatte schon während der Begrüßung darauf aufmerksam gemacht, daß das Interesse über die Wahrheit in Lübeck spürbar gering sei. Kaum jemand habe bisher die Flüchtlinge nach ihrer Wahrnehmung der Geschehnisse gefragt. Von den zahlreichen Medienvertretern, die sich unmittelbar nach dem Brand in Lübeck in Scharen tummelten, um mit der entsprechenden Sensationsmeldung aufwarten zu können, war denn auch am Freitag kein einziger zu sehen. Die Veranstalter hatten sich ein größeres Interesse erhofft.
Erneut wurde die Forderung nach einer unabhängigen, internationalen Untersuchungskommission laut, die sich mit dem Lübecker Ereignis beschäftigen soll. Für eine solche Kommission müßten auch die rassistischen Ermittlungsmethoden der Polizei ein wichtiges Thema sein, betonte eine Sprecherin der Antifaschistischen Aktion Hamburg. Eine Untersuchung könne zudem die rassistische deutsche Realität nicht außen vor lassen.
Tjark Kunstreich, Hamburg