junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 2./3. März 1996, Nr. 53, titelseite
Kritik am Vorgehen der Polizei und der Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung des Brandanschlags auf das Lübecker Flüchtlingswohnhaus haben am Freitag SprecherInnen der Flüchtlinge erhoben. Sie warfen der Polizei vor, sie bereits in den ersten Verhören massiv unter Druck gesetzt und von vornherein nur in eine Richtung ermittelt zu haben. Weder auf ihre Verletzungen, noch auf den Erschöpfungszustand oder die durch den Tod von Angehörigen ausgelöste Belastungssituation sei Rücksicht genommen worden. Marie Angonglovi betonte im Namen der BewohnerInnen des abgebrannten Hauses noch einmal, daß die von der Polizei behaupteten Spannungen zwischen den Flüchtlingsgruppen nicht existiert hätten.
Mohammed E., der älteste Bruder des angeblichen Brandstifters, kritisierte die Abhöraktion, die die Staatsanwaltschaft im Gefängnis gegen Safoan E. und dessen BesucherInnen durchgeführt hat. Über mehrere Wochen waren, wie Oberstaatsanwalt Klaus Dieter Schultz am Donnerstagabend auf eine Veröffentlichung der Bild-Zeitung hin mitteilte, sechs Gespräche zwischen dem inhaftierten Beschuldigten und BesucherInnen abgehört worden. Die Abhörmaßnahme war vom Ermittlungsrichter genehmigt worden.
Die rechtliche Grundlage dafür bildet der 1992 im Rahmen des »Gesetzes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität« neu in die Strafprozeßordnung eingeführte Paragraph 100c, der das Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in bestimmten Fällen erlaubt. Gegen die Einführung dieser Vorschrift, den »kleinen Lauschangriff«, waren von Anfang an schwerwiegende verfassungsrechtliche Einwände geltend gemacht worden. Strafprozeßexperten bestreiten, daß diese Ermittlungsbefugnis auch auf Untersuchungsgefangene angewendet werden könne, weil diese sich in einer Zwangssituation befänden. Abhörmaßnahmen in der Haftanstalt würden das Recht der Untersuchungshäftlinge auf Aussageverweigerung aushöhlen. Aus ähnlichen Erwägungen hatte es der Bundesgerichtshof 1987 für rechtswidrig erklärt, einem Gefangenen einen Spitzel auf die Zelle zu legen.
Die Ermittler in Lübeck begründen die Abhör-Maßnahme damit, daß die Flüchtlinge »erkennbare Vorbehalte« gegenüber der Polizei gehabt hätten. Darum habe man nach anderen Wegen suchen müssen, um zu erfahren, was Safoan E. mit seinen Besuchern und Besucherinnen besprach. Der Anklagebehörde zufolge sollen die aufgezeichneten Gespräche den Tatverdacht gegen den libanesischen Asylsuchenden erhärtet haben.
Oberstaatsanwalt Schultz war nicht bereit, sich zu dem Inhalt der abgehörten Gespräche zu äußern. Details über das Gesagte könnten die Ermittlungsbehörden erst mitteilen, wenn der Verteidiger und der Beschuldigte vollständige Akteneinsicht hätten. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft hat Safoan E. bereits erste Passagen aus den Abhörprotokollen zu Gesicht bekommen hat. Er sei bereit, sich zu belastenden Passagen zu äußern. Diese könnten auf Übersetzungs und Verständnisfehlern beruhen.
Mohammed E. nutzte die Pressekonferenz der Flüchtlinge, um auf Vorwürfe einzugehen, die Medien gegen seinen Bruder erhoben hatten. So gäbe es den Onkel, dem gegenüber Safoan E. nach Medienberichten ein Geständnis abgelegt haben solle, überhaupt nicht. Besucht worden sei Safoan E. nur von seiner Familie und einem deutschen Freund. Man sei sich einig gewesen, über den Ablauf der Ereignisse in der Tatnacht und die Anklagevorwürfe nicht zu sprechen: »Die Polizei ermittelt in eine völlig falsche Richtung, mein Bruder ist unschuldig«.
Unklar ist der weitere Fortgang des Verfahrens. Bisher ist außer der Aussage eines Feuerwehrmannes und den Abhörprotokollen unklaren Inhalts nichts auf dem Tisch, was die Version der Staatsanwaltschaft deckt. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Schultz dementierte gegenüber junge Welt, daß mit einer Anklageerhebung schon in der nächsten Woche gerechnet werden müsse.