junge Welt, Donnerstag, 7. März 1996, Nr. 57, seite 11, antifa
"Uns werden die schlimmsten Verbrechen gegen unsere eigenen Familien und andere Flüchtlinge und MigrantInnen angelastet. Der Haß deutscher Täter, ihr Interesse zu diskriminieren, zu verfolgen und zu töten, wird auf uns, 'die Fremden' übertragen. Wir nehmen diese absurden Verleumdungen nicht tatenlos hin. Schuldig sind Faschisten, Medien, Polizei, Justiz und alle, die beteiligt oder unbeteiligt zusehen.« SOKONI e.V., der Dachverband afrikanischer Gruppen in Hamburg, weigert sich, die Version zu akzeptieren, nach der Safwan E. der Verantwortliche für den Brand im Lübecker Flüchtlingsheim sein soll, dem am 18. Januar zehn Menschen zum Opfer gefallen waren.
Gemeinsam mit antirassistischen Gruppen aus Hamburg und Lübeck plant SOKONI e.V. eine Kundgebung vor dem Untersuchungsgefängnis unter dem Motto »Freiheit für Safwan Eid«. Mit der gleichen Forderung bereiten die Gruppen eine bundesweite Demonstration in Lübeck vor. Die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) organisiert gemeinsam mit afrikanischen Flüchtlingsgruppen in Berlin eine Kundgebung für Safwans Freilassung.
Seit Safwan E. als Brandstifter präsentiert wurde, sind nicht nur die Hintergründe aus den Schlagzeilen geraten. Auch in der Linken wird kaum zur Kenntnis genommen, wie dünn die angeblichen Verdachtsmomente sind. »Schon als noch alle von Neonazis als Brandstifter ausgingen, war die Mobilisierung vor allem im liberalen Spektrum deutlich geringer als noch vor zwei Jahren. So beteiligten sich nur ca. 500 Menschen an einer von den Bündnisgrünen initiierten Kundgebung in Berlin.«, erläutert Michael von der Berliner Antirassistischen Initiative (ARI) gegenüber jW. Auch aktive AntirassistInnen blieben von der Verunsicherung nicht verschont. Die Mobilisierung nach Lübeck sei sofort geringer geworden, nachdem die mutmaßlichen Neonazis freigelassen waren. »Die Hochzeit des Antirassismus ist vorüber«, meint der ARI
Vertreter.
Es sei notwendig und möglich, antirassistische Arbeit zum Brand von Lübeck unabhängig vom Tathergang zu machen, betonte er. »Mal unterstellt, es war ein Unfall, dann sind die materiellen Bedingungen in den Flüchtlingsheimen anzugreifen. Sollte sich bestätigen, daß ein Flüchtling für den Brand verantwortlich war, ist nach den Bedingungen zu fragen, die Menschen so fertigmachen«, so seine Meinung.
Diese Position wird von anderen AntirassistInnen heftig kritisiert. Auf einer Veranstaltung der Berliner Gruppe »ak kassiber« hieß es, wer den Kampf gegen die Lebensbedingungen der Flüchtlinge nach Lübeck zum Hauptangriffspunkt mache, lasse das rassistische Vernichtungspotential der deutschen Volksgemeinschaft unerwähnt. Es sei zudem sinnlos, ergänzte die MigrantInnengruppe Cafe Morgenland, bei einem deutschen Volk von 80 Millionen potentiellen TäterInnen nach dem »Schuldigen« für den rassistischen Brandanschlag in Lübeck zu fahnden. Der Versuch eines jW-Redakteurs, die staatliche Version über den Tathergang zu hinterfragen, wurde als »Übernahme der nationalistisch-chauvinistischen Propaganda« bezeichnet. Skepsis herrscht deshalb bei jenen »antideutschen Gruppen« auch über die Forderung nach Einrichtung einer Internationalen Untersuchungskommission, wie sie vom Lübecker Bündnis gegen Rassimus und dem Antirassistischen Telefon Hamburg vorgeschlagen wird. »Gerade weil sich hier nichts tut, und weil erfahrungsgemäß den Ermittlungen kein Vertrauen geschenkt werden darf, hatten wir die Idee eines internationalen Komitees«, reagiert eine Sprecherin des Antirassistischen Telefons auf jW-Anfrage. Nächste Woche soll die Kommission stehen. Bislang habe man bereits Zusagen aus Italien, Holland, England, Frankreich und Israel. Bei manchen Ländern, so beispielsweise der Schweiz und den USA, warten die AntirassistInnen noch auf Antworten. Peter Nowak
* Kundgebung vor dem Lübecker Untersuchungsgefängnis: 9. März, 14 Uhr
* Demonstration in Lübeck: 23. März, 13 Uhr
* Veranstaltung »... zurück zum rassistischen Alltag« in Lübeck: 14. März, 18 Uhr
* Kundgebung der antirassistischen Initiative und afrikanischer Gruppen am 21. März um 18 Uhr, Adenauerplatz Berlin