junge Welt, Donnerstag, 14. März 1996, Nr. 63, seite 11, antifa
Im Januar starben zehn Menschen bei einer Brandkatastrophe in einem Flüchtlingsheim in Lübeck. Obwohl zahlreiche Indizien auf einen Anschlag hinweisen und diese These auch durch eine Sendung des ARD-Magazins Monitor am vergangenen Donnerstag neue Nahrung erhielt, demonstrierten zwei Tage später nur 250 Menschen in der Lübecker Innenstadt. Kurz nach der Brandnacht hatte es in einem Berliner Aufruf noch vollmundig geheißen: »Notwendig ist nicht nur eine Kampfansage an FaschistInnen, sondern auch an den rassistischen Konsens in der Gesellschaft, den Medien und der Politik!« Während in den ersten Wochen nach der Katastrophe in ein paar Städten Demonstrationen und Veranstaltungen durchgeführt wurden, scheint das Interesse in der Antifa-Bewegung mittlerweile noch stärker abgeflacht als das der Medien.
Die Suche nach den Ursachen dieser Passivität war nicht leicht. Wir bedienten uns einiger Kontakte zu aktiven Gruppen des Adressenverzeichnisses des Antifa-Kalenders 1995. Die erste Auffälligkeit: Ein Großteil der über 250 dort aufgeführten Initiativen ist telefonisch nicht erreichbar. Zweite Auffälligkeit: Unter den angegebenen Telefonnummern meldete sich bei circa einem Fünftel die vertraute Ansage: »Kein Anschluß unter dieser Nummer.« Dritte Auffälligkeit: Von den etwa 20 Gruppen, die wir trotz dieser Widrigkeiten befragen konnten, klagte ein Gutteil über personelle Ausdünnung. Schlußfolgerung aus alldem: Offensichtlich ist die Antifa-Bewegung zumindest in einem mittelschweren Umbruch.
Für die Inaktivität im Zusammenhang mit Lübeck wurden zum einen externe Gründe angeführt, etwa die staatliche Repression. Auf dem letzten Treffen der »Antifaschistische Aktion
Bundesweite Organisation« (AA/BO) war Lübeck kein Thema, Vorrang hatte die juristische Verfolgung gegen Teile der AA/BO-Strukturen, insbesondere die Göttinger Antifa (M). »Wir sind einfach arbeitsunfähig, weil unsere Gerätschaften noch beschlagnahmt sind«, meinte auch das Antirassismusbüro (ARAB) in Bremen. Gegen das Büro läuft ein Verfahren wegen »Volksverhetzung«, ausgelöst durch die Broschüre »Polizisten, die zum Brechen reizen.«
Andere Ursachen sind interner Art. Die Unsicherheit über die Täterschaft des Anschlages wurde von vielen Gruppen als Grund genannt, nicht weiter an Lübeck zu arbeiten. »So zeigte sich, daß die Nachrichtensperre und vor allem die Präsentierung des 'Tatverdächtigen' auf verschiedene Weise demobilisierend wirkte«, schrieb selbstkritisch die Antifa Duisburg. Ein konkretes Feindbild, wie etwa Neonazis als Täter, hätte demnach das Engagement gefördert. Das sind selbstverständlich schlechte Ausgangsvoraussetzungen in einer Zeit, in der Brände in Flüchtlingsunterkünften nach Polizeidarstellung meist stereotyp »ohne fremdenfeindlichen Hintergrund« ausbrechen. Die eigene Recherche der Antifa-Gruppen ist zusammengebrochen: »1992 konnten wir noch nachweisen, daß ein Anschlag in Lampertheim/Bergstraße aus dem Umfeld des NPD-Chefs Günter Deckert verübt wurde und die Ursache nicht, wie die Polizei verlautbarte, eine Zigarette war«, heißt es selbstkritisch in einem Fax einer Frankfurt Initiative.
Ein Mitglied der Antifa (M) erklärt die Passivität damit, daß es die Antifa-Bewegung versäumt habe, inhaltliche Grundlagen zu legen. Die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« (VVN) in Gießen führt die bei früheren Brandanschlägen heftigeren Reaktionen darauf zurück, daß sie großteils »aus dem Bauch kamen«. Die Leute seien auf einer Konjunkturwelle mitgeschwommen, die auch die Medien mitbestimmt hätten.
Ein Mitarbeiter der Kieler Antifazeitung Atze führte die augenblickliche Lethargie der Bewegung auf die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen zurück. »Die Antifa hat in Rostock versagt«, da sie nicht fähig war, die rassistischen Ausschreitungen zu stoppen. Vielen wurde dort bewußt, was eine ernsthafte Konfrontation mit Nazis heißen kann.
Positives ist im norddeutschen Raum zu Lübeck entstanden. Antifaschistische, antirassistische und ausländische Gruppen haben sich zusammengetan, um eine »Internationale Untersuchungskommission« zusammenzustellen, die den Brandanschlag aufklären soll.
Olaf Goebel