junge Welt, Donnerstag, 28. März 1996, Nr. 75, Titelseite
Von Reimar Paul
Ernsthafte Zweifel an der These der Lübecker Staatsanwaltschaft, nach der das Feuer im Flüchtlingswohnheim in der Neuen Hafenstraße der Hansestadt am 18. Januar im ersten Stock gelegt wurde, hat der Brandsachverständige Professor Ernst Achilles geäußert. In den in diesem Stockwerk aus den Trümmern entnommenen Brandschuttproben konnten »keine Nachweise über die Verwendung einer brennbaren Flüssigkeit erbracht werden«, heißt es in einer vorläufigen Stellungnahme des früheren Feuerwehrchefs von Frankfurt/Main.
Die Ermittlungsbehörde, die den 21jährigen Libanesen Safwan Eid als Brandstifter verdächtigt, hat sich bislang im wesentlichen auf ein Gutachten des schleswig-holsteinischen Landeskriminalamtes gestützt, wonach der Brand im ersten Stock des Gebäudes ausgebrochen sein soll.
Andere mögliche Brandausbruchstellen seien nicht intensiv untersucht worden, kritisierte Achilles. So sei es »durchaus möglich«, daß das Feuer im Vorbau des Erdgeschosses ausgebrochen sei. Unter dem Treppenaufgang seien brennbare Putzmaterialien deponiert gewesen, die Wandverkleidung dort sei stark beschädigt worden. Schon vorher hatten mehrere Bewohner des Hauses berichtet, der Brand sei im Parterre ausgebrochen.
Achilles, der weltweit einer der angesehensten Experten für Brandursachenforschung ist, stützt seine vorläufige Expertise im wesentlichen auf die Ermittlungsakten und auf Zeugenaussagen. Ob er von den beiden Anwälten Eids und der Staatsanwaltschaft als offizieller Gutachter in das Verfahren einbezogen wird, war bei Redaktionsschluß noch unklar. Von dieser Entscheidung hängt ab, ob Achilles aufgefordert wird, das Brandobjekt zu inspizieren.
Unterdessen berichtet das Magazin stern in seiner Ausgabe vom heutigen Donnerstag, daß die Staatsanwaltschaft erneut die vier jungen Männer überprüfen will, die in der Brandnacht zunächst festgenommen, am darauffolgenden Tag aber wieder freigelassen worden waren. Dabei solle geklärt werden, warum drei der Jugendlichen versengte Haare, Augenbrauen und Wimpern gehabt hätten. Diese »Hitzeschädigungen im Sinne von versengten Haarenden« hatte nach stern-Informationen ein Rechtsmediziner nach der Festnahme festgestellt.
Die Entlassung der Männer, die aus Grevesmühlen in Mecklenburg-Vorpommern stammen, war seinerzeit aufgrund der Aussagen von Polizisten erfolgt. Die Beamten wollen die Gruppe noch zwanzig Minuten vor Ausbruch des Feuers an einer Tankstelle beobachtet haben, die fünfzehn Kilometer von dem Flüchtlingswohnheim entfernt liege. Nach Recherchen von Flüchtlingsinitiativen beträgt die Distanz zwischen Tankstelle und Haus allerdings nur fünf Kilometer.
Die Staatsanwaltschaft Lübeck hält aber weiter an der Täterschaft Safwan Eids fest. Dabei mußten die Ermittler beim Haftprüfungstermin in der vergangenen Woche einräumen, daß ihnen kein mögliches Tatmotiv Eids bekannt ist. Wie der stern unter Berufung auf einen Staatsanwalt weiter berichtet, soll ein Bruder des Beschuldigten diesem in einem abgehörten Gespräch im Gefängnis gesagt haben, er habe alle Bewohner des Gebäudes zum Schweigen gebracht. Die Protokolle der mitgehörten Gespräche liegen den Rechtsanwälten bislang allerdings nur in Auszügen vor.
Die Bewohner ihrerseits erheben in einer gestern bekanntgewordenen Petition erneut schwere Vorwürfe gegen die Ermittler. In dem Text heißt es unter anderem: »Bis heute versucht die Polizei, Zeugen zu finden, die Safwan belasten. Immer wieder werden wir aufgefordert, doch zu sagen, daß er es war. Kinder werden bis zu fünf Stunden ohne ihre Eltern und ohne einen Anwalt verhört. Die Polizei sagt ihnen: Du kennst doch den Täter: Safwan. Erzähl über ihn, was weißt du über ihn?«