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junge Welt, Mittwoch, 3. Juli 1996, Nr. 153, Seite 5, inland

>> Safwan Eid freigelassen

Nach Recherchen von Journalisten, die jetzt auch in die Ermittlungsakten aufgenommen wurden, soll Leonhardt von seinem Freund Matthias Hamann gedrängt worden sein, den Libanesen zu belasten. Der Polizei habe Hamann, der auch in jener Nacht als Retter eingesetzt war, erzählt, daß Leonhardt ihm bereits auf dem Weg zum Krankentransportbus vom angeblichen Geständnis Eids berichtet habe - zu einer Zeit, zu der der Sanitäter noch kein Wort mit dem Beschuldigten gewechselt hatte. Hamann war beim Malteser Hilfsdienst beschäftigt und soll dort Probleme bekommen haben, nachdem er angeblich Medikamente gestohlen hatte. Bei einer Durchsuchung seines Spindes sei zahlreiches rechtsextremes Propagandamaterial gefunden worden, unter anderem ein Protokoll oder Plan für den Aufbau einer Wehrsportgruppe in Lübeck. Den Recherchen zufolge soll Hamann engen Kontakt zu dem Grevesmühlener Maik Wotenow haben. Wotenow ist einer der vier jungen Männer aus der mecklenburgischen Kleinstadt, die in der Brandnacht in unmittelbarer Nähe der Hafenstraße 52 kontrolliert wurden. Die Polizei nahm die Männer am Morgen des 18. Januar fest, ließ sie aber am nächsten Tag wieder laufen, obwohl bei drei der Jugendlichen eindeutige Brandspuren gefunden wurden.

»Die Spur nach Grevesmühlen ist vollkommen abgearbeitet«, begründete Staatsanwalt Klaus-Dieter Schultz der jW deren schnelle Freilassung. Auch um weitere Verdachtsmomente haben sich die Behörden schnell nicht mehr gekümmert. So konnte Polizeisprecher Detlef Hardt bereits am 1. Februar der Öffentlichkeit verkünden, die Spur eines rechtsradikalen Hintergrundes der Tat werde nicht weiter verfolgt, ermittelt werde lediglich nach möglichen Mittätern Safwan Eids.

Doch schon bei der Motivsuche taten sich die Behörden schwer. Trotz massiver Unterstützung der bürgerlichen Medien scheiterten alle Versuche, dem Beschuldigten ein Tatmotiv zu unterstellen. Alle ehemaligen Bewohner und Bewohnerinnen des Hauses widersprachen den Behauptungen, es habe »Streit zwischen ethnischen Gruppen« gegeben. So mußte Staatsanwalt Klaus-Dieter Schultz Anfang Juni den Vorwurf des zehnfachen Mordes fallenlassen. Auch in einem weiteren Punkt treten die Behörden seither leiser. Nach zahlreichen Initiativen der Rechtsanwältin Gabriele Heinecke hat das Gericht den Brandschutzexperten Ernst Achilles in das Verfahren als Sachverständigen einbezogen. Der Frankfurter Professor hatte in einem im Auftrag des WDR-Magazins Monitor erstellten Gutachten im April die kriminalpolizeilichen Untersuchungen des Brandhauses fundamental in Frage gestellt und einen Anschlag von außen nicht ausgeschlossen. Auch damals war das für die Strafverfolger kein Grund, die staatliche Version vom Brandablauf zu hinterfragen. »Ich habe der Monitor-Sendung keine neue Fakten entnehmen können«, reagierte Schultz gegenüber jW.

Die Jugendkammerrichter offensichtlich doch. Sie räumten gestern erhebliche Zweifel ein. So sei fraglich, ob, wie bisher angenommen, nur von einem Brandherd ausgegangen werden kann. Auch dafür, daß das Feuer im ersten Obergeschoß ausgebrochen und sich dann nach unten ausgebreitet hat, gibt es nach Ansicht der Jugendkammer »nur schwerlich eine überzeugende Erklärung«. Diese Interpretation vom Brandverlauf aber war Grundlage für jene Behauptungen, nach denen ein Anschlag von außen »zweifelsfrei ausgeschlossen« sei.

Ob die Behörden nun wieder in Richtung faschistischer Anschlag ermitteln, bleibt fraglich. Schließlich sollte Schultz durchaus Recht behalten, als er nach Fertigstellung der Anklageschrift Anfang Juni erklärt hatte, ein Freispruch Eids sei »keine Niederlage«. Ein halbes Jahr nach dem mörderischen Brandanschlag dürften alle Spuren beseitigt sein. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.

Schwere Vorwürfe mußten sich junge Welt und Monitor gefallen lassen, die entgegen dem deutschnationalen Mainstream als einzige Medien die Version der Ermittler hinterfragt haben. Zweifel waren nicht angebracht. Warum auch, sollte Lübeck doch zum »Glücksfall für Deutschland« werden. »Und wer entschuldigt sich jetzt bei uns?«, so die bezeichnende Frage eines Lübecker Passanten nach der Festnahme Eids. Die Botschaft war eindeutig: »Störenfriede Ausländer - nicht wir waren es, die Asylanten verbrennen sich selbst«. Durch die Freilassung Safwans ist Deutschland nun um ein Alibi ärmer.

Wolf-Dieter Vogel