nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Fri Sep  4 00:12:30 1998
 

junge Welt, Freitag, 12. Juli 1996, Nr. 161, Titelseite

Haariges aus Lübeck

> Neue Erkenntnisse über Vorgänge in der Nacht des Brandanschlags. Von Wolf-Dieter Vogel

Wer tatsächlich hinter dem Brandanschlag vom 18. Januar dieses Jahres auf das Lübecker Flüchtlingswohnheim steckt, wird sich vielleicht nie endgültig aufklären lassen. Eines aber steht schon heute fest. Die Staatsanwaltschaft der Hansestadt hat sich alle Mühe gegeben, Spuren, die auf einen rechtsradikalen Hintergrund der Tat hindeuten, konsequent nicht nachzugehen. Kaum ein Tag, seit der immer noch beschuldigte Libanese Safwan Eid aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, an dem nicht neue Hinweise auftauchen, denen die Behörde nicht nachgegangen ist. So veröffentlichte am gestrigen Donnerstag das WDR-Magazin Monitor eine Untersuchung der Universität Lübeck, nach der die Brandspuren an drei der zunächst tatverdächtigen jungen Männer aus Grevesmühlen aus der Tatnacht stammen müssen.

Dieses Ergebnis steht im eindeutigen Widerspruch zu Aussagen, die die Jugendlichen bislang gegenüber der Polizei gemacht haben. Nach deren Angaben hätten sie sich die Versengungen an Augenbrauen, Wimpern und Haaren bei Ereignissen geholt, die schon mehrere Tage zurücklagen. Einer will sich die Brandspuren beim Anzünden seines Ofens, der andere durch eine Feuerzeugstichflamme beim Abzapfen von Benzin geholt haben.

Etwas eigenartig die Version des Dritten: Er habe seinen Hund ärgern wollen, ihn mit Haarspray eingesprüht und angezündet. Das alles hat selbst Staatsanwalt Klaus-Dieter Schultz vergangene Woche nicht mehr »in vollem Umfang überzeugt«, zumal sich all diese Vorkommnisse nach den neuesten Erkenntnissen in der Brandnacht hätten ereignen müssen.

Nach den Untersuchungen der Lübecker Universität müssen die Verbrennungen »mindestens innerhalb der letzten 24 Stunden« vor deren Feststellung erfolgt sein. Folglich kann sich die Ursache der Versengungen frühestens gegen 22 Uhr, also rund fünfeinhalb Stunden vor Ausbruch des tödlichen Feuers, ereignet haben - und spätestens am frühen Vormittag des folgenden Tages, denn da wurden die Grevesmühlener Jugendlichen festgenommen. Innerhalb dieses Zeitraums aber hatten die jungen Männer anderes zu tun, als Hunde zu ärgern: Sie fuhren von Grevesmühlen nach Lübeck und hielten sich mindestens bis vier Uhr nachts in der Hansestadt auf - um ein Auto zu klauen, wie sie sagen.

Besteht also noch die Möglichkeit, daß die mutmaßlichen Autodiebe auf dem Heimweg ein Fahrzeug verbrannt haben. Denkt sich zumindest Staatsanwalt Schultz. Zwar taucht ein solches Fahrzeug nie in den Akten auf, zwar haben die Tatverdächtigen selbst nie von einem abgefackelten Auto gesprochen, doch Schultz will es ganz genau wissen. Nach einem halben Jahr »Ermittlungen in alle Richtungen« beginnen die Ermittler, ein verbranntes Auto zu suchen. Am Dienstag ließen sich Fahnder von einem der Männer auf einem Schrottplatz ein Wrack zeigen. Seit drei Tagen werden die Grevesmühlener Jugendlichen erneut verhört, auf »freiwilliger« Basis, nicht als Beschuldigte, sondern als Zeugen. Staatsanwalt Schultz konnte gegenüber jW am Donnerstag die neuen Widersprüche nicht aufklären, da er nie zu sprechen war. Für den späten Donnerstag nachmittag kündigte er eine Presseerklärung an.