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junge Welt, Donnerstag, 22. August 1996, Nr. 196, Seite 11,antifa

> Exemplarisch nach Grevesmühlen?

> Gegen den »rassistischen Normalzustand«

Pro und Contra zu einer umstrittenen Aktion

»Der Staatsschutz trifft Vorkehrungen. Mehrere Hundertschaften Polizei seien bereits eingeteilt für Grevesmühlen, sagen die zuständigen Behörden. Die Demonstration soll verboten werden. Das gilt es durchzusetzen.« Die FAZ kündigt am 20. August an, was die TeilnehmerInnen auf der Demonstration in der mecklenburgischen Kleinstadt am 31. August erwartet. Mit der Demonstration soll gegen den, wie es im Aufruf heißt, in Deutschland herrschenden »rassistischen Normalzustand« vorgegangen werden, wie er beim Umgang mit dem Lübecker Brandanschlag am 18. Januar offensichtlich wurde. Aus Grevesmühlen und Umgebung stammen jene vier rechten Jugendlichen, die zunächst als Tatverdächtige festgenommen, dann aber schnell wieder freigelassen wurden. Doch die Demonstration, die hauptsächlich von Gruppen aus dem antinationalen Spektrum organisiert wird, ist auch unter Linken umstritten. Von einigen Gruppen, die sich mit dem Brandanschlag beschäftigen, ernten die VeranstalterInnen Kritik. jW veröffentlicht zwei Stellungnahmen, die sich mit der geplanten Demonstration auseinandersetzen. (jW)

> Den Tätern auf die Pelle rücken!

Warum in Grevesmühlen demonstrieren, und nicht vor der Lübecker Staatsanwaltschaft? Wo liegt das Problem, wenn nicht nur rassistische Ermittlungen ins Kreuzfeuer der Kritik genommen werden, sondern auch jene, denen die Opfer und Toten von rassistischer Gewalt am Arsch vorbei gehen? Safwan Eid ist frei. Trotzdem wird am 16. September 1996 der Prozeß gegen ihn eröffnet. Die konsequente Fortführung einer Strategie, bei der es einzig und allein darum geht, daß nicht sein kann, was nicht sein darf: deutsche Täter am Werk. Das Verlangen nach einem nicht-rassistischen Motiv durchzieht die bisherigen Ermittlungen und Auseinandersetzungen um die rassistischen Morde von Lübeck. Genug der Lichterketten, Kleiderspenden und »Faß meinen Kumpel Ali nicht an«-Kampagnen, die Deutschland über sich ergehen lassen mußte. Wenn Deutsche morden, dann ist es an ihren Opfern, dies auch zu beweisen. Das Vorgehen der Lübecker Staatsanwaltschaft, die Opfer des rassistischen Brandanschlages als Täter zu präsentieren, folgt den gleichen Prinzipien, wie Deutschland sich seiner nächsten Vergangenheit zu entledigen versucht: Umdeutung, Relativierung und Leugnung der deutschen Verbrechen.

Als vor vier Jahren in Rostock Rassisten, Neo-Nazis und ganz normale Bürger gegen MigrantInnen pogromierten, rühmten sich auch Grevesmühlener Jugendliche, dabeigewesen zu sein. Sie brauchten keine Sanktionen zu befürchten, denn sie genossen den Schutz und das Wohlwollen der Gesellschaft, in der sie leben. Als sie aus Rostock zurückkehrten, wurden sie wieder zu den Töchtern und Söhnen von nebenan und waren nicht mehr »die Neo-Nazis«, wie sie in den Tagen zuvor in den Medien betitelt wurden. Deswegen fahren wir nach Grevesmühlen, exemplarisch für die Verhältnisse in ganz Deutschland. Täter sind nicht nur die prügelnden und zündelnden Wenigen. Es sind auch diejenigen, die diese Taten unwidersprochen gutheißen oder sich der individuellen Verantwortung entziehen, sich diesen entgegenzustellen.

Jetzt, da wir beschlossen haben, in Grevesmühlen zu demonstrieren, verstehen so manche Anti-RassistInnen nicht mehr, was das noch mit »Lübeck, Brandanschlag und Safwan« zu tun hat. Gegen den Staat und seine rassistischen Ermittlungsbehörden solle man/frau demonstrieren, was nicht falsch ist. Wer aber den Staat und seine Apparate losgelöst von der Bevölkerung wahrnimmt, verkennt die Realitäten in diesem Land. Die Pogrome der letzten Jahre bedurften keiner staatlichen Anordnung: Die Massen demonstrierten »selbstbestimmt«, wie sie sich »Politik der Straße« vorstellen.

Die Grenzen zwischen harmlosen Vorurteilen gegenüber dem »Fremden« und dem Wunsch sowie der Bereitschaft zur Vernichtung des »Fremden« sind nicht starr. Die große Gleichgültigkeit, mit der die Mehrheit rassistische Gewalt, wenn überhaupt, wahrnimmt, bereitet den Boden für die Tat: trotz und vielleicht gerade wegen der überlieferten Erfahrung der maschinell-durchstrukturierten Vernichtung von Menschenleben und trotz der 40 Jahre verordnetem »Antifaschismus« und »Internationalismus« der DDR.

Die Beharrlichkeit, mit der ganz normale Deutsche MigrantInnen und alle anderen, die nicht in ihr völkisches Weltbild passen, beleidigen, anpöbeln, angreifen und töten, zeigt die Wirkungslosigkeit und Beschränktheit von gut gemeinten Appellen. Rassistische Gewalt läßt sich nicht gemeinsam bekämpfen, solange einige viele Deutsche nicht kapieren, daß sie ihre Finger von denen zu lassen haben, die sie nicht kennen. Rassismus gibt es überall, aber nirgendwo so vernichtend wie hier. Was die Mentalität der hiesigen Bevölkerungsmehrheit angeht, so existieren die Bedingungen, die Auschwitz ermöglichten, auch heute weiter.

Berliner Demonstrations-Vorbereitungsgruppe

> Keine »Besserwessis« nach Grevesmühlen!

"Bei 80 Millionen potentiellen Tätern geht es nicht um die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen, sondern um die Suche nach der Nadel im Nadelhaufen. (Café Morgenland).« Allein in diesem Zitat, das dem Demonstrationsaufruf vorangestellt ist, kommt der Widersinn der Aktion zum Ausdruck. In dieser willkürlichen Arithmetik werden nicht nur Kleinkinder mitgerechnet, sondern pikanterweise auch die nicht-deutsche Bevölkerung. Aber es geht natürlich nicht um Zahlenspiele: Dahinter steht eine Auffassung, die unpolitisch und sektenhaft ist. Wer sich allen Ernstes nur noch von unverbesserlichen Rassisten umzingelt sieht oder gar vom »pathologischen Tötungswahn der Deutschen« (so gefallen in einem Redebeitrag auf einer Demo in Lübeck am 23. März) ausgeht, ist zu einer differenzierten Analyse und damit zu wirksamem Auftreten gegen den Rassismus nicht mehr fähig.

Der Trennungsstrich zum Gegner wird haarscharf vor den eigenen Füßen gezogen, häufig so eng, daß auch das Lübecker Bündnis gegen Rassismus in das Lager des »rassistischen Konsens« definiert wird und sich beispielsweise mit der absurden Forderung der MigrantInnengruppe Café Morgenland konfroniert sah, auf einer Demo in Lübeck (!) nicht sprechen zu sollen. Diese Grundhaltung, innerhalb der Linken nicht das Verbindende, sondern das Trennende zu suchen, setzt sich im Verhältnis zur »Außenwelt« noch verschärft um.

Die Bevölkerung - in diesem Fall die Grevesmühlens - soll nicht mehr mobilisiert und für die eigenen Positionen gewonnen werden. Sie wird zum Gegner. Die Parole »Bringen wir ihnen unsere Wut und unseren Haß« unter dem Aufruf ist mit linker emanzipativer Politik schlicht unvereinbar. Natürlich sind rassistische Denkmuster in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet und historisch tief verankert. Sie werden keinesfalls nur von »oben« in die Gesellschaft hineingetragen. Es gehört zu den Aufgaben einer antirassistischen Bewegung, auch diesen gesellschaftlichen Rassismus scharf zu kritisieren. Diese Kritik darf aber nicht an die Stelle von politischem Handeln treten. Sie darf nicht nur das eigene Rechthaben nach außen tragen, sondern muß tatsächlich auf die Veränderung von Bewußtsein und Strukturen abzielen.

Wir streiten für konkrete Forderungen: Für das Bleiberecht aller Flüchtlinge, für die Einstellung des Verfahrens gegen Safwan und für eine gründliche öffentliche Aufklärung des Lübecker Justizskandals, damit sich eine derartige Umdeutung der Wahrheit nicht so einfach wiederholen läßt. Voraussetzung für ein sinnvolles politisches Auftreten in Grevesmühlen wäre zunächst eine Kooperation mit antirassistischen Kräften vor Ort. Der massenhafte Einfall von »Besserwessis« in die mecklenburgische Kleinstadt wird jedenfalls keine positive Wirkung haben. Im Gegenteil: Die Identifikation der EinwohnerInnen mit den möglichen Tätern aus ihrer Mitte wird reproduziert werden. Die Demonstration wird mithelfen, genau das am Leben zu halten, was sie eigentlich kritisieren und angreifen soll. In dieser Einschätzung bestärkt uns das eigene Erleben der von auswärtiger Beteiligung geprägten Demonstration in Lübeck, auf der nicht einmal im Ansatz eine Vermittlung unserer politischen Inhalte an die Umstehenden gelang.

Der Skandal des Verfahrens gegen Safwan besteht in einer rassistisch ermittelnden Staatsanwaltschaft, der eine mehr als dürftig zusammengezimmerte Anklage reicht, um einen Flüchtling vor Gericht zu zerren, die aber gleichzeitig dringende Hinweise ignoriert, die auf jene vier Deutsche aus Grevesmühlen hindeuten. Es gibt aber (zumindest zur Zeit) keinerlei Sicherheit, daß diese vier die Täter von Lübeck waren. Eine entsprechende Sicherheit (und wir stellen weiterhin unabhängige Recherchen in diese Richtung an) wäre für uns aber eine der notwendigen Voraussetzungen für eine Demo in Grevesmühlen. Dann aber in Zusammenarbeit mit Leuten vor Ort und mit einem Aufruf, der zumindest die Chance bietet, daß ein nicht geringer Anteil der TeilnehmerInnen aus Grevesmühlen und Umgebung kommt. So, wie die Aktion angelegt ist, halten wir sie für kontraproduktiv. Wir haben uns daher entschlossen, dafür weder zu mobilisieren noch selbst dorthin zu fahren.

Lübecker Bündnis gegen Rassismus