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junge Welt, Donnerstag, 29. August 1996, Nr. 202, Seite 11, antifa

>> Freisprüche für die deutsche Nation

> Dokumentation der Pressestimmen zum Brandanschlag in Lübeck

"Fast klang es hier und da wie eine Erleichterung, gleichsam zur Entlastung des eigenen Gewissens, keine rassistischen Täter und Motive vorzufinden", kommentiert Detlef Hensche, Vorsitzender der IG Medien, im Vorwort der »Materialien zum rassistischen Brandanschlag in Lübeck«. Im Vergleich zu den Zeitungsmeldungen und Hintergrundberichten, die von der »Projektgruppe Antinazismus der IG Medien« zusammengestellt worden sind, mutet die Einschätzung Hensches geradezu harmlos an.

Im ersten Teil dokumentieren die Zeitungsausschnitte, daß es in den meisten offiziellen Verlautbarungen am Tag nach der Brandnacht nicht um die zehn Ermordeten und die 30 Verletzten ging, sondern vielmehr um den Ruf Deutschlands und besonders den der Stadt Lübeck. Nachdem die Lübecker Staatsanwaltschaft den begründeten Anfangsverdacht gegen vier Jugendliche der Nazi-Szene aus Grevesmühlen fallen ließ und statt dessen einen Heimbewohner als möglichen Täter präsentierte, überschlug sich die Presse von FAZ bis taz. Fast einhellig erging sie sich in Freisprüchen für die deutsche Nation und Anklagen gegen ausländische Kritiker. Die Herausgeber des Buches weisen auf die Parallelitäten etwa der Kommentare in der FAZ und der Deutschen Nationalzeitung hin und widmen ein Kapitel den publizistischen Reaktionen der rechtsradikalen Szene.

In weiteren Kapiteln werden Positionen von Asten, Flüchtlingsgruppen, Antifaschisten und Kommunisten dargestellt, die von den meisten Medien geflissentlich verschwiegen wurden. Dokumentiert werden ebenfalls Stimmen der Opfer und die Ergebnisse der »Internationalen unabhängigen Kommission«. Die »Materialien zum rassistischen Brandanschlag« beleuchten auch ähnlich gelagerte Fälle, wie etwa die in Hattingen oder Stuttgart. Besonders häufig sind Meldungen und Berichte aus der jW abgelichtet. Als einzige Tageszeitung hat sie die Version der Lübecker Staatsanwaltschaft durchgehend in Frage gestellt.

Die 492 Seiten starken Materialien sind kein Lesebuch, sie dienen eher als Arbeits- und Recherchegrundlage. Anstrengend sind zum Teil die mit einem dicken, schwarzen Filzstift vorgenommenen Markierungen. Die gute Absicht der Herausgeber, dem Leser auch beim Durchblättern einen Einblick in die wichtigsten Widersprüche des Brandanschlags zu geben, fördert an manchen Stellen zwar die persönliche Einschätzung der Herausgeber zu Tage, verhindert jedoch die vollständige Lektüre einiger Artikel.

Das Buch dient als Begleitmaterial für eine Ausstellung zum Brandanschlag in Lübeck. Premiere ist der 13. September in Lübeck und in Bonn, wo jeweils ein Referent anwesend sein wird. Die »Projektgruppe Antinazismus in den IG Medien« plant weitere Ausstellungen während einer antifaschistischen Woche im Oktober in Saarlouis.

Gerhard Klas

*** Die »Materialien zum rassistischen Brandanschlag in Lübeck« (32 Mark für Gewerkschaftsmitglieder, antifaschistische und antirassistische Gruppen, ansonsten 45 Mark) und Informationen zur Ausstellung sind unter folgender Adresse erhältlich: IG Medien Rheinland-Pfalz/Saar, Hafenstr. 33, 66111 Saarbrücken; Tel: 0681/4 42 42 Fax: 0681/417 03 37