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junge Welt, Dienstag, 17. September 1996, Nr. 218, Titelseite

> In Lübeck begann der Prozeß gegen ein Opfer, das der Täter sein soll.

Von Elke Spanner und Wolf-Dieter Vogel, Lübeck

>> Safwan Eid vor Gericht

Safwan Eid ist eingeschüchtert. Die Last der Anklage, das deutsche Gerichtswesen und nicht zuletzt der große Medienrummel, mit dem er am Montag, seinem ersten Prozeßtag, in Lübeck empfangen wurde, haben ihm den Mut genommen, sich zum Prozeßauftakt persönlich zu äußern. So behielt er sich vor, zu »gegebenem Zeitpunkt« Aussagen zur Sache oder zu seiner Person zu machen. Die Lübecker Staatsanwaltschaft beschuldigt den jungen Libanesen, am 18. Januar die ehemalige Flüchtlingsunterkunft in der Hafenstraße der Hansestadt in Brand gesteckt zu haben. Bei dem Feuer waren zehn Menschen ums Leben gekommen.

Rolf Wilcken, der Vorsitzende Richter des Lübecker Landgerichts, bemüht sich nicht, die Atmosphäre zu entspannen. Brummig, nahezu barsch spricht er leise mehr zu sich selbst als zum Gerichtssaal, macht Safwan Eid, der ohnehin sprachliche Schwierigkeiten hat, das Verstehen nahezu unmöglich. Auf Wunsch des Beschuldigten ließ sich zu Prozeßbeginn Pflichtverteidiger Hans-Jürgen Wolter von seinem Mandat entbinden. Obwohl Safwan Eid den Rücktritt Wolters gefordert hatte, kam diese Initiative des Anwalts überraschend. Bislang hatte Wolter sich geweigert, sein Mandat niederzulegen, da er sich »dem Gericht gegenüber verpflichtet« fühle. Wolter wurde durch die Hannoveraner Rechtsanwältin Barbara Klawitter ersetzt.

Als erster wurde Marwan Eid in den Zeugenstand gerufen. Der Vater des Beschuldigten bekräftigte in seiner Vernehmung, was er auch schon unmittelbar nach dem Brandanschlag gesagt hatte: »Sie haben uns mit einer Bombe geschlagen, sie haben uns gebrannt«, gibt der vom Gericht bestellte Dolmetscher wieder, was Marwan Eid aussagt, seinem Sohn Safwan vor dem brennenden Haus zugerufen zu haben. Die Aussage deckt sich nahezu vollständig mit dem, was Safwan Eid nach eigener Darstellung gegenüber einem Hauptbelastungszeugen auf der Fahrt ins Krankenhaus gesagt hat. Er habe, so hat Safwan Eid in der Vergangenheit mehrfach betont, wiedergegeben, was ihm sein Vater berichtet hatte. Der Belastungszeuge Jens L. hingegen will verstanden haben, »Wir waren es«.

Bevor er vor dem Brandhaus mit Safwan sprach, seien erst seine Kinder, dann er selbst und seine Frau dem beißenden Rauch im ersten Obergeschoß durch das Fenster entronnen, berichtete Marwan Eid am Montag. Laut habe er nach seinen auf dem Dach stehenden Söhnen Safwan, Mohamed und Gafwan gerufen. Der Versuch des Vaters, vor Gericht zu beschreiben, wo genau er das Feuer zuerst wahrgenommen hatte, mußte scheitern. Zu unübersichtlich waren die vorgelegten Skizzen. »Eigentlich hatten sie versprochen, ein Modell des Gebäudes zu beschaffen«, kritisierte Verteidigerin Gabriele Heinecke. Ein solches Modell soll nun besorgt werden. Schließlich verweigerte der Vater jede weitere Aussage, nachdem Rechtsanwältin Heinecke Staatsanwalt Böckenhauer vorgeworfen hatte, Widersprüche in Eids Aussage zu konstruieren.

Mit unbewegten Mienen, aber sehr aufmerksam verfolgten Jean-Daniel Makudila, der bei der Brandkatastrophe seine Frau und fünf Kinder verlor, und Joao Bunga, dessen Frau und ein Kind starben, die Schilderungen von Marwan Eid. Beide sind Nebenkläger.

Von den vollbesetzten Publikumsrängen aus beobachteten auch Hans Langenberg und Beate Klarsfeld von der Internationalen Untersuchungskommission den Prozeßbeginn. »Die rassistischen Mörder müssen ins Gefängnis«, störte ein Zwischenrufer die Ruhe die Gerichts. Der Mann wurde des Saales verwiesen. Protest regte sich auch außerhalb des Gerichtsgebäudes. Rund 70 Menschen demonstrierten spontan durch die Lübecker Innenstadt. Das Lübecker Bündnis gegen Rassismus kündigte für den 2. November eine Demonstration in der Hansestadt an.

Eine »Gruppe gegen Nation und Rassismus« brachte ein weithin sichtbares Transparent am Holsten-Tor an, dem Wahrzeichen der Stadt: »Deutschland spricht sich frei«. Nicht Marzipan, nicht Baukultur stehe für die Ostseestadt, so hieß es zur Erklärung, sondern die »Vertuschung eines Brandanschlages zur Entlastung der deutschen Nation«.

Der Prozeß soll am Mittwoch fortgesetzt werden. Das Gericht will an den zunächst acht geplanten Verhandlungstagen bis zum 14. Oktober insgesamt rund 60 Zeugen anhören.