junge Welt, Mittwoch, 25. September 1996, Nr. 225, Seiten 2/3, ansichten
Staatsanwalt Michael Böckenhauer gab sich nach der Vernehmung
des Hauptbelastungszeugen Jens L. im Prozeß um den Lübecker
Brandanschlag am Montag sicher: Im Gegensatz zu den Vernehmungen
vorhergehender Zeugen sei die Befragung von Jens L. sehr ergiebig
gewesen, da er offen über alles geredet habe und sich nicht, wie
andere Zeugen, sprich die Angehörigen des Angeklagten Safwan
Eid, den Fragen verweigert habe. In einigen Medienberichten war
gar davon die Rede, der Zeuge habe den Beschuldigten, dem
vorgeworfen wird, für das tödliche Feuer verantwortlich zu
sein, schwer belastet. Jens L. will von dem libanesischen
Flüchtling in der Brandnacht ein Geständnis gehört haben.
»Wir warn's«, so der Rettungssanitäter in mehreren
Vernehmungen, habe ihm Safwan Eid wortwörtlich gestanden. Das
bekräftigte Jens L. erneut am Montag vor Gericht.
Am heutigen Mittwoch wird dessen Freund und Kollege Matthias H.
vor der Lübecker Jugendkammer vernommen. Auch ihm soll Jens L.
von dem angeblichen Geständnis berichtet haben. Wann er das
genau getan haben will, darüber bestehen in den Aussagen von
Jens L. Widersprüche. So hatte er am 31. Mai zu Protokoll
gegeben, er habe noch »am Ereignisort«, also bevor er
überhaupt mit Safwan Eid ins Krankenhaus gefahren war, mit
Matthias H. über das Geständnis gesprochen. Die Vernehmung von
Matthias H., bei dem Ende der achtziger Jahre Material über den
Aufbau einer rechtsradikalen Wehrsportgruppe gefunden wurde, ist
nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung, weil er die
Polizei von dem angeblichen Geständnis Eids informierte.
junge Welt sprach mit der Rechtsanwältin von Safwan Eid, Gabriele Heinecke, über die Angaben von Jens L. am dritten Prozeßtag und die Vernehmung von Matthias H, die am heutigen Mittwoch stattfindet.
(Die Red.)
F: Wurde Ihr Mandant durch die Aussagen von Jens L. tatsächlich schwer belastet?
Nein. Der Zeuge konnte sich nicht mehr an den Wortlaut dessen erinnern, was ihm der Libanese von sich aus erzählt haben soll. Er berichtete seine Version, nach der Safwan gesagt habe: »Wir warn's«. Dann habe Safwan geäußert, er habe mit einem Familienvater oder Hausbewohner Streit gehabt, er habe sich rächen wollen oder von Rache sei die Rede gewesen, er habe Benzin oder eine andere brennbare Flüssigkeit in einem Gefäß oder einer Flasche oder einem Becher an die Tür gekippt, das dann angezündet worden sei. Daraufhin sei es die Treppe runtergelaufen und dann sei diese in Flammen gestanden.
F: Jens L. hat bereits in vorhergehenden Vernehmungen verschiedene Versionen des von ihm angeblich Gehörten mitgeteilt. Die Aussagen vom Montag erscheinen als eine Mischung aller bisher gemachten Angaben.
Nicht nur das. Er hat gleich sämtliche Versionen, die auch andere Sanitäter mal abgegeben haben und in denen ganz erhebliche Widersprüche existieren, mit in seine Aussage einbezogen. Es gibt beispielsweise von seiner Kollegin Nadine M., die auch am Montag vernommen wurde, eine Aussage, nach der Jens L. ihr noch im Bus gesagt habe, daß eine Flasche eine Rolle gespielt habe. Demnach soll Benzin in eine Flasche gefüllt und dann gegen die Tür geworfen worden sein. Bislang gab Jens L. an, nicht von einer Flasche geredet zu haben.
Zudem paßt die Erwähnung der Flasche durchaus zu den Aussagen Safwans. Er gab nämlich vergangenen Mittwoch vor Gericht an, daß der Sanitäter, nachdem Safwan ihm gesagt habe, »die haben eine Bombe geworfen«, geäußert habe, das war doch bestimmt ein Molotow-Cocktail. An diese Einzelheit konnte sich der Sanitäter am Montag nicht erinnern. Ausschließen wollte er sie aber auch nicht. Safwan hat am Mittwoch gesagt, auf seine Frage, was denn ein Molotow-Cocktail sei, habe der Sanitäter geantwortet: »Benzin in eine Flasche und dann gegen die Tür.« Das ist eine Auffälligkeit, die Jens L. jetzt in seine Aussage gleich miteinbezogen hat. Auch sein Zugführer vom 3. Sanitätszug des DRK, Jörg Sch., hat ausgesagt, Jens L. habe gleich, nachdem er aus dem Bus ausgestiegen und wieder in der Hafenstraße beim Brandhaus gewesen sei, berichtet, daß mit einer Flasche dieser Brand gelegt worden sein soll.
F: Denken Sie, wie selbst die FAZ am Dienstag schreibt, daß L. im Prozeß nicht die Worte von Safwan wiedergegeben hat, sondern eher, was er Presseberichten entnommen hat?
Ich habe eine andere Vermutung. Er ist ja in einem Zeugenbetreuungsprogramm gewesen. Die Aussage, die er jetzt gemacht hat, klingt sehr stark nach einem solchen Zeugenbetreuungsprogramm. Er hat am vergangenen Mittwoch zu Beginn der Vernehmung bis ins Detail gehende Angaben gemacht, was nach so langer Zeit sehr unwahrscheinlich ist. Beispielsweise wußte er, mit welcher Hand er was angefaßt hatte. Als ihn dann aber die Verteidigung befragte, ist er immer mehr abgeglitten. Dann hieß es plötzlich, »vielleicht könnte das gewesen sein«. So erinnerte er sich nicht, ob er denn Herrn H. vom Geständnis berichtet hatte, bevor er mit dem Bus abgefahren oder nachdem er wieder vom Krankenhaus zum Gebäude in der Hafenstraße zurückgekehrt war. Alles, was die ganz krassen Widersprüche bei den bisherigen Ermittlungen hat zutage treten lassen, hat er umgangen, indem er sagte, »ich erinnere mich nicht«.
F: Es gab ein Treffen zwischen Staatsanwalt Böckenhauer und den wichtigsten Zeugen am 8. Juli. Sie haben diesem Treffen in Ihrer Befragung einen großen Raum beigemessen. Welche Rolle könnte es im weiteren Verlauf des Verfahrens spielen?
Das Treffen ist eine merkwürdige Sache. Durch die Befragung stellte sich heraus, daß sich Böckenhauer, zwei leitende Beamte der Mordkommission, die Zeugen Jens L. und Matthias H. und wer weiß, wer noch bei der Wasserschutzpolizei getroffen haben. Dort soll überwiegend über Verhaltensmaßregeln von Zeugen bei Gefährdung gesprochen worden sein. Wobei gar nicht klar wurde, was für eine Gefährdung das sein sollte. Zudem aber wurde dort von Matthias H. ein Satzungsentwurf des Paintballclubs übergeben, dessen Vorstand er ist. Mit Sicherheit ist ein Treffen zwischen Staatsanwaltschaft, der Leitung der Mordkommission und diesen Zeugen nicht erklärlich, wenn nicht inhaltlich etwas abgesprochen wurde. Wir werden sehen müssen, wie wir darauf reagieren.
F: Also handelt es sich um eine Ermittlungstätigkeit im Rahmen eines Zeugenbetreuungsprogramms, die rechtlich nicht zulässig ist?
Das haben wir am Montag gegenüber der Staatsanwaltschaft erklärt und Herrn Böckenhauer aufgefordert, Stellung zu nehmen. Er hat dies nicht getan. Die Anklagevertretung hat Ermittlungstätigkeiten zu machen und sich nicht in Zeugenbetreuung einzumischen. Eine Vermengung von inhaltlicher Vorbereitung und einer Zeugenbetreuung, die den Zweck hat, Zeugen nicht zu gefährden, darf es nicht geben. Das muß sehr mißtrauisch machen.
F: Wie bewerten Sie denn jetzt, nach dem dritten Verhandlungstag, den bisherigen Verlauf des Verfahrens?
Die wesentlichen Aussagen sind bislang die von Safwan und die von Jens L. Herr L. hat nicht bestätigen können, was bisher von der Anklage behauptet wurde. Auch wenn das jetzt stellenweise in der Presse anders zu lesen ist. Er hat zwar bestätigt, daß Safwan Eid gesagt habe: »Wir warn's«. Aber alles, was danach kam, war so unkonkret, daß man Zweifel haben muß, ob der Zeuge sich überhaupt an diese Situation erinnert. Es kommt noch etwas hinzu: Jens L. erzählte am Montag auch, wie Safwan auf die Knie gestützt, den Kopf nach unten, gesessen haben soll. Er habe sich vor ihm niedergehockt und sich dann neben ihn gesetzt, nachdem Safwan gesagt habe: »Wir warn's«. Er hat nicht berichtet, daß Safwan dabei seine Haltung geändert hat. Er hat sogar gesagt, er sei weiter so gesessen. Safwan soll monoton die ganze Zeit vor sich hingesprochen haben, ohne die Stimme zu erheben. Diese Schilderung widerspricht insbesondere einem weiteren Zeugen, dem Fahrer des Wärmebusses. Dieser berichtete vor Gericht, daß im Bus ein fürchterliches Geschrei gewesen sei und ein erheblicher Lärmpegel bestanden habe. Das hatte auch L. bislang so beschrieben. Er sprach von einer unglaublichen Geräuschkulisse. Am Montag nun wurde der Weg ins Krankenhaus zu einer doch teilweise sehr ruhigen Fahrt, in der er mit Safwan Eid in normalem Gesprächston reden konnte. Auch das halte ich für unglaubwürdig.
F: Welche Bedeutung wird die Vernehmung von Matthias H. am heutigen Mittwoch haben?
Herr H. ist eigentlich nur wichtig für die Glaubwürdigkeit von Herrn L. Matthias H. hat nicht mit Safwan Eid gesprochen. Eine weitere Belastung durch irgendeinen Zeugen in diesem Verfahren ist nicht möglich. Es gibt nur einen einzigen Zeugen der Anklage, und das ist Jens L. Matthias H. war in seinen bisherigen Aussagen immer dabei geblieben, er sei davon überzeugt, daß L. noch vor dem Haus, vor dem Einsteigen im Bus, vielleicht auch auf der Treppe vom Geständnis des Libanesen erzählt habe. Und das ist ein so eklatanter Widerspruch, den der Zeuge L. am Montag zu glätten versucht hat, indem er mit dem »Ereignisort«, von dem er am 31. Mai sprach, den Ereignisort des Geständnisses gemeint haben will. Das ist natürlich ein schwarzer Rabe. Wir werden heute sehen, ob sich Matthias H. nun auch nicht mehr erinnern kann. Wenn aber nicht mehr lokalisiert werden kann, wo denn nun was gesagt worden sein soll, dann gibt es keinen Halt mehr für die Staatsanwaltschaft.
F: Sie sind am Montag recht intensiv auf das gemeinsame Paintballspielen von Matthias H. und Jens L. eingegangen. Warum?
Auch diese Sache weist darauf hin, daß der Zeuge zumindest in mittelbarer Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft vorbereitet worden ist. Die Anklagevertretung bat den Zeugen, er solle über seine Begründung zur Kriegsdienstverweigerung etwas sagen. Das war natürlich unbedingt notwendig, um ihn einigermaßen glaubwürdig zu halten. Jens L. antwortete, die Begründung zur Kriegsdienstverweigerung sei inhaltlich nicht ernstzunehmen. Er habe einfach fünf Seiten geschrieben, und die Behörden hätten das anerkannt, aber ansonsten habe ihn das innerlich nicht so berührt. In diesem Tenor äußerte er sich, woraufhin die Staatsanwaltschaft auf die Frage des Paintballspielens überleitete. Auch die Bedeutung dieses Spiels hat Herr L. sehr runtergespielt. Er sagte übrigens in den Akten bisher, daß er nur ein einziges Mal dabeigewesen sei, nämlich zum Filmen. Jetzt aber spricht er davon, immerhin bis zu viermal mitgemacht zu haben. Und zwar noch in der Zeit Mai, Juni, Juli. Aber auch wann das war, wußte er nicht mehr genau. Wie soll man einem solchen Zeugen Glauben schenken, der einerseits wissen will, was im Januar geschehen ist, andererseits sich an knapp zwei Monate zurückliegende Ereignisse nicht mehr erinnern kann?
F: Offensichtlich will aber auch Herr H. die paramilitärische Bedeutung des Paintballspielens ein wenig zurückstellen, indem er der Staatsanwaltschaft im Juli einen Aufnäher präsentierte, auf dem »Lübeck Leathernecks gegen Rassismus« zu lesen war.
Richtig. Das passierte während diesem denkwürdigen Gespräch bei der Wasserschutzpolizei am 8. Juli. Da übergab Matthias H. eine Satzung, auf der er selbst als Vorsitzender auf Lebenszeit für den ersten Lübecker Paintballverein eingetragen ist. Es handelte sich um einen Entwurf, der offensichtlich mit Blick auf dieses Verfahren gemacht wurde. Eigentlich steht in dieser Satzung gar nicht so recht drin, was man mit dem Verein will. Vielmehr steht drin, was man nicht will, nämlich daß niemand von rechts und links und keine paramilitärische Begeisterungsanhänger dort etwas zu suchen hätten. Was aber wirklich zu denken gibt, ist dieser Aufnäher, den angeblich alle aus dem Verein haben. Jens L. sagte übrigens am Montag, er habe den Aufnäher noch nie gesehen, auch andere, die ich in Lübeck gefragt habe, kennen den Aufnäher nicht. Mir scheint das alles lediglich eine Maßnahme im Hinblick auf diesen Prozeß zu sein.
F: Dieser Satzungsentwurf ist erst später entstanden, nicht schon vor dem 18. Januar?
Der Entwurf wurde am 8. Juli Herrn Böckenhauer oder Herrn Giesenberg von der Mordkommission oder Herrn Stebner von der Mordkommission übergeben. Und eins hat uns am dritten Verhandlungstag auch noch aufmerken lassen. Herr L. duzt sich doch mit einer großen Anzahl der Polizeibeamten, unter anderem mit Herrn Stebner, einem Leiter der Mordkommission.
Interview: Wolf-Dieter Vogel