nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Fri Sep  4 00:14:00 1998
 

junge Welt, Dienstag, 1. Oktober 1996, Nr. 230, Seite 6, inland

>> Acht Zeugen, acht Sichtweisen

> Lübeck: Nebenkläger-Anwalt stellt Befangenheitsantrag gegen Brandexperten

Der Frage, wo genau im ehemaligen Flüchtlingswohnheim in der Lübecker Hafenstraße am 18. Januar das Feuer ausgebrochen ist, das zehn Menschen das Leben kostete, wollte sich das Landgericht am Montag über die Vernehmung zahlreicher AugenzeugInnen nähern. Doch viele Augen sehen viel: Während einige den Brand erst im ersten Stock des Hauses entdeckt haben wollten, meinten andere, das Feuer zunächst in dem hölzernen Vorbau ausgemacht zu haben. Weitere haben sich darüber gewundert, »wie das Feuer an zwei Stellen gleichzeitig ausbrechen konnte«.

»Jeder hat genau das gesehen, was er von der Seite aus, von der er kam, sehen konnte«, resümierte die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke. »Das ist normal.« So verspricht sie sich von den Befragungen kaum Aufschluß über den Brandausbruchsort. Ihre Kollegin Barbara Klawitter zeigte sich zumindest zufrieden damit, daß die Version, der Brand sei im ersten Stock ausgebrochen, doch sehr fragwürdig sei.

So unbedeutend der Verhandlungstag auch erscheinen mochte: Der Frage des Brandausbruchsortes kommt im Prozeß vor der Jugendkammer des Lübecker Landgerichtes ganz erhebliche Bedeutung zu. Die Staatsanwaltschaft behauptet, das Feuer habe im ersten Stock des zweistöckigen Gebäudes seinen Ursprung. Die Ankläger Michael Böckenhauer und Axel Bieler stützen sich dabei auf Brandgutachten des schleswig-holsteinischen Landeskriminalamtes (LKA) sowie des Bundeskriminalamtes. Die Behörden kamen zum entsprechenden Ergebnis - das entscheidende Beweisstück dazu, eine Spanplatte mit »tiefen Einbrennungen«, allerdings können sie nicht vorweisen. Es ist bei den Aufräumarbeiten verschwunden. Aus diesem Gutachten leiten Bieler und Böckenhauer her, daß das Feuer nicht von außen verursacht, sondern im Innern des Hauses gelegt worden sein muß. Ihr Tatverdächtiger: Safwan Eid.

Dagegen wird auch eine zweite Version über den Brandausbruchsort von honorigen Brandexperten vertreten: Der Frankfurter Sachverständige Ernst Achilles meldete nicht nur Zweifel an der Sorgfältigkeit der Arbeit der LKA-Beamten und deren Ergebnissen an. In einer eigenen Expertise kam er zu dem Schluß, daß das Feuer vermutlich in dem hölzernen Vorbau des Gebäudes ausgebrochen sei - weswegen er einen Brandanschlag von außen für wahrscheinlich hält.

Achilles, der die Version der Staatsanwaltschaft damit erheblich anficht, könnte im Verfahren noch eine bedeutende Rolle zukommen. Das scheint neben den Ermittlern auch den Anwälten der Nebenklage Wolfgang Klausen und Ullrich Haage nicht gelegen zu kommen. Am letzten Prozeßtag hatte Haage den Ausschluß des Brandexperten wegen Befangenheit beantragt - ohne Absprache und gegen den Willen seines Mandanten Joao Bunga. Der zog den Antrag am Montag zurück - wiederum gegen den Willen und zur sichtlichen Verunsicherung Haages, dem Bunga dem Vernehmen nach auch das Mandat entziehen will.

So scheinen sich diese beiden Nebenklageanwälte zunehmend als selbst prozeßbeteiligt zu verstehen und losgelöst vom Willen derer zu agieren, die sie vertreten sollen. Nachdem Haage den Befangenheitsantrag zurückziehen mußte, sprang ihm sein Kollege Klausen zur Seite und machte seinerseits Befangenheit gegen Achilles geltend - worüber er die von ihm vertretene Familie El Omare zuvor in ungefähr drei knappen Sätzen informiert hatte.

Elke Spanner, Lübeck