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junge Welt, Dienstag, 22. Oktober 1996, Nr. 247, Seite 6,inland

Ich bin Soko-Leiter, ich weiß von nichts

> Im Lübeck-Prozeß offenbaren sich Augen-zu-und-durch-Ermittlungen gegenüber Grevesmühlenern

Episoden sind alltäglich, und an Alltägliches braucht man sich nicht erinnern zu können. Auch nicht, wenn dabei zehn Menschen starben. Wolfgang Sahm, der am Montag im Lübecker Brandprozeß aussagte, war als Kriminalbeamter zwar Leiter der Sonderkommission zur Aufklärung des Feuers in der ehemaligen Flüchtlingsunterkunft im Januar. Doch über die Ermittlungen der von ihm so titulierten »Episode« will er kaum informiert gewesen sein.

»Ich mische mich nicht in die Detailarbeit anderer ein«, erklärte der Soko-Leiter seine auffälligen Gedächtnislücken, die immer dann auftraten, wenn er zu Gesprächen innerhalb der Polizei oder mit der Staatsanwaltschaft befragt wurde. Ein für ihn irrelevantes Detail war offenbar auch die Entlassung der drei tatverdächtigen Grevesmühlener wenige Tage nach dem Brand. Sahm will sich nicht mehr daran erinnern, wer die Freilassung beschlossen hat. So »glaubt« er nur, daß der leitende Oberstaatsanwalt Schultz bei dem entscheidenden Gespräch anwesend war, und auch daß er selbst mitentschieden hat, meint er auf Nachfrage vage zu erinnern. »Der Entlassung der Grevesmühlener habe ich wahrscheinlich zugestimmt«, fällt dem Soko-Leiter wieder ein, leider aber nicht, wieso er das tat. Denn was die Grevesmühlener entlastet haben soll, sei ihm gar nicht bekannt. Nur daß der dringende Tatverdacht nicht mehr aufrechterhalten werden könne, hätten ihm seine Ermittler mitgeteilt. Also stimmte er der Freilassung zu.

Während die Rechtsanwältin des Beschuldigten Safwan Eid, Gabriele Heinecke, knapp zusammenfaßte: »Der Zeuge ist unglaubwürdig«, wollte Staatsanwalt Axel Bieler gegenüber jW keine »unüblichen Auffälligkeiten« bemerkt haben. Umso unüblicher und auffälliger fand hingegen die Vertreterin der internationalen unabhängigen Kommission, Beate Klarsfeld, den Auftritt Sahms. »Nachdem ich heute diesen Zeugen gehört habe, bin ich mir sicher, daß die Ermittler absichtlich blind gegenüber den Grevesmühlenern sind«.

Am Nachmittag verteilten einige der Überlebenden der Brandnacht eine Presse-Erklärung, in der sie erläuterten, welchen Zweck sie als NebenklägerInnen verfolgen: »Nur so haben wir die Möglichkeit, in das Verfahren und die weitere Aufklärung des Brandanschlages einzugreifen.« Die Flüchtlinge betonten gleichzeitig, daß sie Safwan Eid für unschuldig halten.

Verwirrung über die Nebenklage hatte es gegeben, seit der Verteidiger der Nebenklägerfamilie El Omari, Wolfgang Clausen, begonnen hatte, auf Seiten der Staatsanwaltschaft gegen Safwan Eid zu prozessieren. Prozeßbeobachter befürchten seitdem, daß der Familie El Omari die Tragweite von Clausens Handeln womöglich nicht ganz bewußt sein könnte. Diese Vermutung scheint sich durch ein Gespräch der jW mit einer der Töchter zu bestätigen: Zögerlich räumte sie ein, daß die Familie außerhalb der Hauptverhandlung keinerlei Kontakt mit Clausen habe. Wie es dazu gekommen sei, daß der zweite Anwalt der Familie, Ulrich Haage, plötzlich für sie das Mandat übernommen hatte, nachdem Nebenkläger Joao Bunga ihm das Vertrauen entzogen hatte, wisse sie nicht. Doch auch diese Entscheidung sei direkt im Gerichtssaal gefallen. Dort ist auffällig, daß Clausen und Haage mit der Familie El Omari nie mehr als einzelne Sätze zwischendurch sprechen.

Elke Spanner, Lübeck