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junge Welt, Freitag, 1. November 1996, Nr. 255, Seite 4, inland

Überlebende wollen ihre Sicht schildern

> Staatsanwalt forderte, Verteidigerin wegen Veranstaltungsteilnahme vom Lübecker Brandprozeß zu entbinden

Im Gerichtssaal haben sie bisher noch nicht das Wort erhalten, nun ergreifen es die Überlebenden selbst. Ehemalige BewohnerInnen der im Januar abgebrannten Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße stellten am Mittwoch klar: »Die wichtigen ZeugInnen für die Brandnacht sind wir«. Erst vergangene Woche erhielten sie von der Jugendkammer ihre Ladungen. Ab kommenden Mittwoch können sie als ZeugInnen schildern, was am 18. Januar geschah. In dem seit Mitte September andauernden Verfahren gegen Safwan Eid, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, für den Brand verantwortlich zu sein, wurden zunächst die PolizistInnen, Feuerwehr- und Rettungseinsatzleute angehört. Diese trafen im Gegensatz zu den BewohnerInnen erst am Brandort ein, als das Feuer sich schon ausgebreitet hatte. Daß sie erst jetzt vernommen werden sollen, kritisierten die Flüchtlinge am Mittwoch in einem Pressegespräch in der Ostseestadt heftig: »Unser Auftritt wird vieles erklären können«, versprach Kibulo Katuta. Er schalt auch die Medien, die stets fleißig Polizei und Staatsanwaltschaft, nicht aber die BewohnerInnen befragt hätten. So habe er über die Presse erfahren müssen, es habe im Hause Streit zwischen afrikanischen und arabischen Familien gegeben. Katuta entschieden: »Das ist falsch. Wir haben uns gut verstanden.«

In höhnisches Gelächter brach Marie Agonglovi aus, als die Rede darauf kam, die Familie des Angeklagten Safwan Eid habe aus der Hafenstraße ausziehen wollen. Das wurde von der Monopolzeitung der Hanse-Stadt Lübecker Nachrichten als mögliches Tatmotiv gehandelt. Agonglovi: »Wir wollten alle ausziehen! Sie finden die Anträge aller BewohnerInnen auf den Ämtern«. Auch sie wartet sehnlich darauf, vor Gericht aussagen zu dürfen. Schon jetzt deutete sie an: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Feuer im ersten Stock ausgebrochen ist«, wie es die Ankläger behaupten.

Daß offenbar allein die Flüchtlinge Licht in das Dunkel des Tathergangs bringen können, schien sich auch durch den Prozeßverlauf am Mittwoch erneut zu bestätigen. Eine Beamtin der Spurensicherung sollte über sichergestellte Asservate und ihre kriminaltechnischen Untersuchungen berichten. Ihrer Aussage nach wurden nicht mal Bodenproben in unmittelbare Nähe der gefundenen Leichen genommen. Die von der Staatsanwaltschaft behauptete Brandausbruchsstelle, eine Spanplatte im ersten Stock, habe sie im Originalzustand nie gesehen. Wer sie zuerst untersucht habe, wisse sie nicht.

Begonnen hatte der zwölfte Prozeßtag mit einer Posse. Staatsanwalt Michael Böckenhauer hatte außerhalb der Hauptverhandlung schriftlich beim Gericht die Überlegung angeregt, die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke von der Verteidigung zu entbinden. Grund: Da sie mit Safwan Eid an Veranstaltungen in Berlin und Frankfurt/Main über den Prozeß teilgenommen habe, habe sie ihren Mandanten politisch funktionalisiert. So stelle sich die Frage, ob Eid ihr noch vertrauen könne. Eine »offene Kriegserklärung« gegen die Verteidigung, reagierte die Anwältin Barbara Klawitter und forderte Böckenhauer auf, seine Anregung mit Bedauern zurückzunehmen. Richter Rolf Wilcken sah keine Veranlassung, den Vorwürfen des Staatsanwaltes nachzugehen. Aber auch einen Antrag der Verteidigung, sämtliche Protokolle polizeilicher Vernehmungen des Hauptbelastungszeugen Jens L. zu verlesen, um dessen Widersprüche aufzuzeigen, lehnte Wilcken ab.

Indes mobilisieren für den morgigen Samstag antirassistische Gruppen aus verschiedenen Städten, Grüne und der PDS-Landesverband Schleswig-Holstein zu einer Demonstration (13 Uhr, Lübecker Koberg), sie fordern »Freispruch für Safwan Eid«. Dort werden unter anderem die Überlebenden des Brandes in einem Redebeitrag über ihre Situation berichten. Deren Aufenthaltsduldung, die bei einigen am 8. November auslaufen sollte, wurde nun bis zum Mai nächsten Jahres verlängert.

Elke Spanner, Lübeck / Wolf-Dieter Vogel