junge Welt, Montag, 4. November 1996, Nr. 257, Seite 4, inland
Die traurige Geschichte ist dem Haus anzusehen. Von außen blickt man in ausgebrannte, verkokelte Räume hinein. Ruß zieht sich an der Außenfassade hoch. Die Fensterscheiben sind zerborsten, mit Plastikplanen notdürftig abgedeckt. Die düstere Stimmung wird durch Regen und Wind untermalt. Wohl niemand unter den rund 1 000 DemonstrantInnen kann sich ihr entziehen. Und will es in diesem Moment auch nicht: Für drei Schweigeminuten verharrte der Demonstrationszug am Sonnabend vor der ausgebrannten Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße 52.
Eine der überlebenden ehemaligen BewohnerInnen, eine Frau aus Zaire, stimmt das »Halleluja« an. Dann wieder beklemmendes Schweigen. Die Bedrohung, die diese Ruine für die ehemaligen BewohnerInnen ausstrahlen muß, wird ansatzweise spürbar. Als ein anderer Überlebender anschließend in einer Rede alle Flüchtlinge und ImmigrantInnen auffordert, sich zu organisieren und öffentlich zu Wort zu melden, kann sich die Anspannung endlich entladen. Lauter Beifall erschallt.
Safwan Eid, gegen den seit dem 16. September vor dem Lübecker Landgericht prozessiert wird, läuft nicht mit. Er fühle sich in der Öffentlichkeit bedroht, erzählt sein Bruder Gashwan, der unter den DemonstrantInnen ist.
»Warum werden die Stimmen der 38 Überlebenden des Brandanschlages weder im Gericht noch in der Öffentlichkeit gehört, dagegen die Zeugenaussage eines deutschen Sanitäters in den Mittelpunkt des Prozesses gerückt?« fragt ein Sprecher von Sokoni, dem Dachverband für Afrikaner und Schwarze in Hamburg, in einem Redebeitrag. Und er liefert die Antwort gleich mit: »Wir erkennen darin dieselbe Diskriminierung, die wir tagtäglich erfahren und wie sie durch Sondergesetze verankert ist.« Auch das Hamburger Bündnis für die Unterstützung der Überlebenden des Lübecker Brandanschlages verdeutlicht, daß Lübeck mehr als ein Justizskandal sei: »Lübeck zeigt, wie weit die nationale Formierung in Deutschland schon fortgeschritten ist.« Es könne nicht geleugnet werden, daß ein großer Teil der Bevölkerung hinter diesem nationalen Projekt stehe.
Elke Spanner, Lübeck