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junge Welt, Donnerstag, 7. November 1996, Nr. 260, Seite 6, inland

Sammelsurium von Wahrnehmungen

> Lübecker Brandprozeß: Rot-Kreuz-Einsatzleiter macht widersprüchliche Aussagen

Das einzig Klare ist, daß nichts klar ist. Wem hat der Rettungssanitäter Jens L. vom angeblichen Geständnis Safwan Eids berichtet? Wann hat er das getan und vor allem: Was will er gehört haben? Auch am Mittwoch wurde im Verfahren gegen den Libanesen vor der Lübecker Jugendkammer das Potpourri bisheriger Versionen eher um weitere ergänzt, als daß offene Fragen beantwortet werden konnten. Safwan Eid ist angeklagt, im Januar das Feuer in der ehemaligen Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße gelegt zu haben, bei dem zehn BewohnerInnen starben.

Am Mittwoch kam der am Brandort eingesetzte Zugführer des Deutschen Roten Kreuzes Jörg Sch. und damit der Einsatzleiter des Hauptbelastungszeugen Jens L. zu Wort. Ihm hatte Jens L. von dem angeblichen Geständnis berichtet, das er von Safwan Eid gehört haben will. Mehr als das konnte Jörg Sch. allerdings kaum bestätigen. Zunächst war er sich sicher, Jens L. habe erzählt, daß er von einem »Asylanten« etwas von einer Tür im ersten Stock gehört hätte, vor der sie etwas aus einer Flasche ausgegossen hätten, das dann die Treppe runtergelaufen sei. Auf Nachfrage betonte Jörg Sch. wiederholt, vom ersten Stock doch nichts gehört zu haben und sich auch wegen der Flasche nicht sicher zu sein.

Das konfuse Sammelsurium des Sanitäters offenbart ein Dilemma in der »Wahrheitsfindung«: Der Brand ist fast ein Jahr her, wurde in Medien und Gesprächen unter allen Beteiligten so breit diskutiert, daß die einzelnen ZeugInnen kaum noch auseinanderhalten können, was sie selbst wahrgenommen oder auf anderem Wege im nachhinein erfahren haben. Das macht auch die Aussagen von Jens L. und dessen Kollegen und zweiten Belastungszeugen Matthias H. unglaubwürdig, sie hätten vor Prozeßbeginn ihre Erinnerungen nicht in Gesprächen abgeglichen. Wie unwahrscheinlich diese Aussage ist, zeigte sich am Mittwoch, als Jörg Sch. befragt wurde, wann die Mitarbeiter seines Einsatzzuges alarmiert wurden. Während Jens L. und Matthias H. in ihren Vernehmungen beide 4.22 Uhr angegeben und behauptet hatten, das durch ihren Pieper zu wissen, erläuterte Jörg Sch., daß der Pieper keine Uhrzeit anzeige.

Jens L. hatte offenbar weit mehr Personen von dem angeblichen Geständnis erzählt, als er selbst vor Gericht eingestanden hatte. Irritierend ist nach wie vor, daß niemand sich zu erinnern vermag, wann das gewesen sein soll. So will Jörg Sch. von Jens L. nach Abschluß ihres Rettungseinsatzes bei Aufräumarbeiten unterrichtet worden sein. Daran würde er sich erinnern, weil er ihm erwidert habe, daß könne nicht sein, es wären doch schon Rechtsradikale verhaftet worden, wie er aus dem Radio erfahren habe. Die gemeinten drei Grevesmühlener Jugendlichen wurden aber erst Stunden später festgenommen. Möglicherweise hat also Jens L. seinen Einsatzleiter tatsächlich erst viel später als bislang behauptet vom angeblichen Geständnis Safwan Eids berichtet.

Elke Spanner, Lübeck