junge Welt, Dienstag, 19. November 1996, Nr. 270, Seite 6, inland
Die Verwirrung wird immer größer. Auch am zweiten Tag ihrer Vernehmung vor dem Lübecker Landgericht widersprach Assia El Omari konsequent allem, was sie jemals der Polizei zu Protokoll gegeben hat. Sie galt bisher als Belastungszeugin gegen den Anklagten Safwan Eid, weil sie als einzige der BewohnerInnen des Flüchtlingsheimes in der Lübecker Hafenstraße eine Schuld des Libanesen nicht absolut ausschloß. Eid wird angeklagt, das Haus im Januar in Brand gesteckt und dadurch den Tod von zehn Menschen verursacht zu haben.
Die Mutter von neun Kindern war zwei Tage nach Eids Entlassung aus der Untersuchungshaft selbst zur Staatsanwaltschaft gegangen, um dort auszusagen, Safwan Eid sei bereits 21 Jahre alt. In diesem Fall müßte er nach Erwachsenen- und nicht nach Jugendstrafrecht beurteilt werden. Am Montag allerdings offenbarte Assia El Omari vor Gericht, daß sie nicht die Geburtsdaten, nicht einmal das Geburtsjahr ihrer eigenen Kinder kennt.
Für Aufregung hatte am vergangenen Mittwoch gesorgt, daß Assia El Omari von lauten Stimmen berichtet hatte, von denen sie in der Brandnacht wachgeworden sei. Dies war in zahlreichen Medien als Belastung Safwan Eids durch ein mögliches Tatmotiv gehandelt worden - obwohl die am Streit beteiligten Männer angeblich »afrikanisch« gesprochen haben, Safwan Eid hingegen wie seine Landsmännin El Omari arabisch spricht.
Auch über diesen angeblichen Disput äußerte sich Frau El Omari am Montag sehr verwirrend. Hatte sie unmittelbar nach dem Brand der Polizei gar nichts davon berichtet, erwähnte sie bei einer zweiten Vernehmung im April Stimmen auf der Straße. In der Hauptverhandlung nun soll es plötzlich ein Streit im Haus gewesen sein, von dem sie aufgewacht sei.
Ähnlich konfus ihre Aussagen über den Ablauf der Brandnacht: Hatte sie seinerzeit berichtet, »wir waren alle mit Ruß verschmiert«, soll jetzt nur noch Safwan Eid verschmutzt gewesen sein. Den Angeklagten will sie während der Brandnacht im Bus ins Krankenhaus aus den Augen verloren haben. Am Montag erklärte Assia El Omari, sie habe Safwan Eid während der ganzen Fahrt zum Krankenhaus im Blick gehabt. Andere ZeugInnen hatten dagegen berichtet, El Omari sei im Bus völlig außer Fassung gewesen, habe geschrien, geweint und sich die Haare gerauft.
»Aufgrund des Schmerzes ist Frau El Omari nicht in der Lage, reale Wahrnehmungen von durch viele Monate verzerrten Bilder zu unterscheiden«, resümierte Safwan Eids Anwältin Gabriele Heinecke zum Abschluß der Vernehmung Assia El Omaris. »In ihrer seelischen Not scheint sie davon überzeugt, daß außer ihr niemand die Wahrheit sagt.« Dafür spreche vor allem, daß sie den Kontakt zu allen ehemaligen HausbewohnerInnen abgebrochen habe, um sich, wie sie selbst sagte, »nicht weiter beeinflussen zu lassen«.
Am Montag wurde zudem bekannt, daß einer der ehemaligen Bewohner der Unterkunft in der Lübecker Hafenstraße am Sonntag am Bahnhof der Hansestadt zusammengeschlagen wurde. Mehrere Skinheads, so die bisherigen Informationen, hätten den Mann so schwer verletzt, daß er im Krankenhaus behandelt werden mußte.
Elke Spanner, Lübeck