junge Welt, Donnerstag, 9. Januar 1997, Nr. 7, Seite 6, inland
Mit einer erneut heftigen Kritik der Verteidigung an der einseitigen Ermittlungsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft ging der Prozeß um die Brandstiftung in dem Lübecker Flüchtlingsheim am Mittwoch in die 29. Verhandlungsrunde. Rechtsanwältin Gabriele Heinecke bemängelte dabei insbesondere, daß die Staatsanwaltschaft es versäumt habe, einen Briefkasten, der im hölzernen Vorbau der Flüchtlingsunterkunft befestigt war, untersuchen zu lassen. Durch die Klappe des Postkastens, so Heinecke, hätten sehr leicht verschiedenste Gegenstände von außen ins Innere des Vorbaus geworfen werden können. Im Eingangsbereich des Hauses in unmittelbarer Nähe des Briefkastens seien starke Brandspuren festgestellt worden.
Das Gericht hatte die sichergestellte Klappe des Briefkastens am vergangenen Montag auf Antrag der Verteidigung des Angeklagten Safwan Eid in Augenschein genommen, nachdem der Zeuge Khalil El-Omari, der mit seiner Familie in dem Haus gewohnt hatte, ausgesagt, daß der Kasten schon vor dem Feuer von innen weitgehend zerstört gewesen sei.
Die nicht vorgenommene Untersuchung des Briefkastens reihe sich ein in die »weiteren Unterlassungen der Staatsanwaltschaft«, kritisierte Gabriele Heinecke weiter. So seien auch die Fenster des hölzernen Vorbaus, dessen Boden und sogar die stark verkohlte Leiche von Sylvio Amossou, die vor der Eingangstür im Innern des Vorbaus gefunden wurde, nicht ausreichend untersucht worden. Schließlich betonte die Rechtsanwältin nochmals, daß die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die vier unmittelbar nach dem Feuer am 18. Januar vergangenen Jahres festgenommenen rechtsradikalen Jugendlichen aus Grevesmühlen nicht weiter verfolgt habe, obwohl die Männer Brandspuren im Gesicht und Benzinkanister sowie einen Benzinschlauch im Auto hatten.
Nach dieser Kritik der Verteidigung zeigte die Staatsanwaltschaft sich umso eifriger in der Befragung der Zeugin Ottodzo Dope Agonglovi, die mit ihren drei Kindern im ersten Stock der Flüchtlingsunterkunft wohnte. Die Frau war in der Brandnacht von einem ihrer Söhne geweckt worden und konnte sich schließlich gemeinsam mit den Kindern durch ein Fenster ins Freie retten. Zuvor hatte sie noch einen Blick ins Treppenhaus geworfen und dort nach eigenen Aussagen »einen Feuerschein« gesehen. Ob es denn nicht auch »Flammen« gewesen sein können, fragte Staatsanwalt Böckenhauer mehrmals nach. Das hätte seine Theorie, wonach der Brand im ersten Stock des Hauses gelegt worden ist, untermauern sollen. Doch die Zeugin wiederholte mehrfach, daß es sich um »einen Feuerschein« gehandelt habe. Möglicherweise habe sie den durch das Fenster im Treppenhaus wahrgenommen. Das aber befand sich über dem hölzernen Vorbau des Hauses, der nach der Theorie der Verteidigung tatsächlich zuerst brannte.
Da er so nicht weiterkam, verlegte Staatsanwalt Böckenhauer sich darauf, die Zeugin nach den Erlebnissen eines ihrer Söhne in der Brandnacht zu befragen. Der 14jährige soll in der kommenden Woche vor dem Gericht aussagen.
Christian Eggers, Lübeck