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junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 11./12. Januar 1997, Nr. 9, Wochenend-Beilage, Seite 3

k o m m e n t a r

>> »Katzen, Kaninchen, Türkenkinder«

> Ein Gutachter aus dem Solinger Prozeß erklärt den Rassismus tiefenpsychologisch.

Von Tjark Kunstreich

Bevor sich nach dem Brandanschlag von Lübeck abschließend die Logik durchsetzte, derzufolge für die Mordanschläge und Pogrome gegen Nichtdeutsche allenfalls die Opfer selbst als Täter in Frage kommen, gab es punktuell noch öffentliche Aufmerksamkeit für deutsche Einzeltäter. Voraussetzung für die im Gefolge von Lübeck etablierte Sichtweise war, daß jene Einzeltäter regelmäßig zu Opfern ihrer eigenen Taten erklärt wurden. Ein »Pionier« der letzteren Perspektive ist der Essener Kinder und Jugendpsychiatrie-Professor Christian Eggers, der im Prozeß um den rassistischen Mordanschlag von Solingen, der im Sommer letzten Jahres zu Ende ging, einen der Angeklagten begutachtet hat: Christian R. (Im folgenden: Chr.), der zunächst seine späteren Mitangeklagten schwer belastete und dann seine Version der Tat mehrmals änderte.

Eggers ist nun in einem Artikel der Neuen Sammlung (Nr. 2, 1996) dazu übergegangen, seine Sicht auf den Angeklagten Chr. zur Grundlage einer allgemeinen Abrechnung mit der »Gesichtslosigkeit« der modernen Gesellschaft zu machen. Eggers erntet größtenteils Anerkennung in der Fachöffentlichkeit, sein Aufsatz wird zustimmend zitiert, was wenig überrascht: Eggers formuliert nur eine Spur deutlicher, was seine Kollegen denken.

In dem Aufsatz »Selbstlosigkeit als Ursache für ausländerfeindliche Gewalt« erfahren wir, die Welle des rassistischen Terrors in den Jahren nach 1989 sei »Ausdruck einer neuen und radikalen Form des Jugendprotestes gegen die etablierte Erwachsenenwelt.« Nur nebenbei: Als an den Würstchenbuden in Rostock-Lichtenhagen und Mannheim-Schönau (wo die Übergriffe je über eine Woche dauerten und volksfestartigen Charakter angenommen hatten) die Mütter und Väter der jugendlichen »Protestierer« Beifall klatschten, war davon nicht viel zu spüren. Auch aus dem Prozeß gegen die jungen rassistischen Mörder aus Solingen ist bekannt, daß die Eltern zumeist das Weltbild ihrer Kinder teilen.

Zum Beleg seiner Hauptthese zitiert Eggers Enzensberger, wonach die »Zerstörungswut« nur »notdürftig in gesellschaftlich geduldeten Formen kanalisiert wird als Autowahn, Arbeits- und Freßsucht, Alkoholismus, Habgier, Prozeßwut, Rassismus und Familiengewalt«. Die Behauptung, dem Menschen sei die »Zerstörungswut« bzw. »Gewalt« quasi angeboren, durchzieht den Eggerschen Aufsatz, wobei bereits in der Beliebigkeit der Aufzählung das Gegenteil der anthropologischen These aufscheint: Ebenso wie der »Autowahn« das Auto wurde schließlich erst Anfang des Jahrhunderts in Massen produziert ist der Rassismus eine Angelegenheit der Neuzeit. Was sich hinter Erscheinungen wie »Zerstörungswut« verbergen könnte, wird im weiteren Text nicht untersucht, übrig bleibt eine Naturhaftigkeit gesellschaftlichen Handelns und ihrer Bedingungen.

Dementsprechend ignoriert Eggers rassistische bzw. faschistische Aussagen seines Klienten oder er stellt fest, Chr. entwickele »uneinfühlbare, nicht nachvollziehbare, bizarre und verstiegene Ideen, z. B. daß er 'vormittags und nachmittags im Kommunismus, frühabends und nachts in der Diktatur' leben wolle.« Hier wehrt der Gutachter einen naheliegenden Gedankengang ab: Diese Mischung aus Sicherheitsbedürfnis (das sich nur als Bedürfnis nach Unterwerfung ausdrücken kann) und Harmoniesucht (Ziel: unter sich zu sein) entspricht einer verklärenden und etablierten Sicht auf den Nationalsozialismus: als einer (vielleicht zum Teil auch kritikwürdigen aber) in jedem Falle sicheren Ordnung.

Statt dessen weiß Eggers, daß Chr. lediglich »nach dem idealen Vater« sucht: »Diese Suche wird auf den idealen Staat projiziert, den er sich in seiner Phantasie erschafft, allerdings ein Staat mit autoritär-destruktiven Zügen der Gewaltherrschaft und Verfolgung.« Damit wird die autoritäre Einstellung des Chr. zugleich relativiert »allerdings« und zu einem Nebenproblem erklärt. Die Frage, welche gesellschaftlichen Grundlagen sich für solche Einstellungen in Deutschland finden, wird mit dieser Individualisierung ausgeblendet. Noch deutlicher wird dies, wenn Eggers Äußerungen zitiert, in denen der Angeklagte erzählt, er habe schon Tiere umgebracht und »Türkenkinder« gehaßt: »Aus tiefenpsychologischer Sicht handelt es sich dabei um eine Projektion des eigenen hassenswerten kindlichen Selbst auf Katzen, Kaninchen und Türkenkinder.« Chr. spricht in diesem Zusammenhang verallgemeinernd von »Mistviechern«. Aus »tiefenpsychologischer Sicht« könnte man deshalb auch vermuten, es handle sich um einen tiefgehenden Rassismus, der »Türkenkinder« nicht als Menschen, sondern als »Mistviecher« (=Tiere) erlebt, deren Lebensrecht ebensowenig gilt wie das von Katzen und Kaninchen.

Aber daß es sich bei Chr. um einen Rassisten handelt, der tatsächlich nicht einmal weiß, daß er Menschen umgebracht hat, weil er »Türkenkinder« nicht als solche wahrnimmt, ist auch nicht so wichtig. Schließlich geht es Eggers um fundamentale Gesellschaftskritik. »Es ist eine hedonistische Gesellschaft, Lustgewinn hat einen großen Stellenwert, der Erwerb materieller Güter wird von vielen zum Lebensinhalt erkoren, man berauscht sich am Konkreten der Lust.« Die hier in psychoanalytische Sprache gepackte wertkonservative Kulturkritik verbirgt nur schlecht die Sehnsucht nach jener Ordnung, die Eggers zuvor noch »bizarr« und »verstiegen« genannt hat.

In dem ganzen Aufsatz fehlt jeder Bezug auf die psychoanalytischen Theorien zur gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands nach 1945, und das ist natürlich kein Zufall. Eggers selbst wird in dem Maß »bizarr«, wie deutlich wird, daß er den gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang außer acht läßt, der auf die Verdrängung und Verleugnung der deutschen Verbrechen rückschließen ließe: Welche Spur die deutschen Verbrechen und ihre Verleugnung in der Psyche hinterlassen hat, diese Frage wird tabuisiert und dann umgedreht: »Beim Umgang mit Gewalt lauert eine Falle, nämlich die, daß man in einen Zustand der moralischen Entrüstung verfällt, dann ist man auf der Seite 'des Guten', 'auf der richtigen Seite', man ist 'besser' und kann sich dem Gewalttätigen gegenüber als 'überlegen' erleben (...) Man vermeidet, sich selbst oder einen Teil seines Selbst im gewalttätigen anderen wiederzufinden und sich damit innerlich auseinandersetzen zu müssen.« Die immer wieder unterstellte moralische Entrüstung, die es in Deutschland lediglich in Form von Lichterketten gegeben hat und das reichlich spät, ist das Generalargument gegen alle, denen es um die politischen und gesellschaftlichen Ursachen des Rassismus zu tun ist.

»Wenn die jugendlichen Gewalttäter das Gefühl bekommen könnten, auch in ihrer Destruktivität ernst genommen zu werden, das heißt, wenn sie die Bereitschaft der Gesellschaft spüren können, sich um deren Integration anstelle von Ausgrenzung zu bemühen, dann könnte es ihnen auch gelingen, den anderen, den Fremden ihrerseits wahrzunehmen und zu integrieren«, schreibt Eggers schließlich und macht die Verdrehung der Realität komplett. Als würden Jungnazis gesellschaftlich ausgegrenzt, als wäre die deutsche Gesellschaft von einem Klima bestimmt, in dem man sich nicht trauen dürfe, seine rassistischen Einstellungen zu äußern. Das Gegenteil ist der Fall: Kaum war Hoyerswerda »asylantenfrei«, reisten Sozialarbeiter an und betreuten die Gewalttäter. In dem Diskurs über die »neue und radikale Form des Jugendprotests«, wie er auch von Eggers vertreten wird, kommen die Täter in dem Maße als Opfer vor, wie Eggers und andere sich selbst als Opfer fühlen und sich also in den rassistischen Mördern wiedererkennen; die eigentlichen Opfer sind lediglich der Katalysator und haben keine eigene Leidens und damit auch Existenzberechtigung. Insofern beweist Eggers Text gerade, was er dementieren will: Der Rassismus kommt nicht vom Rand der Gesellschaft, sondern aus ihrer Mitte, die Jugendlichen protestieren nicht, sondern drücken ihre Zugehörigkeit aus (und bekommen gerade dafür Unterstützung und Anerkennung), sie sind keine Einzeltäter, sondern willige Vollstrecker eines gesellschaftlichen Wollens.