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junge Welt, Sonnabend/Sonntag, 22./23. März 1997, Nr. 69, Seite 11, thema

>> Der mysteriöse Tod des Sylvio Amoussou

> Lübecker Brandprozeß: Eine Leiche ohne Todesursache führt die Tat-Theorie der Staatsanwaltschaft ad absurdum

Sylvio Amoussou kann nichts mehr sagen. Am 18. Januar vorigen Jahres, der Brandnacht im Lübecker Flüchtlingsheim, kam der 27jährige Flüchtling im hölzernen Vorbau der brennenden Unterkunft ums Leben. Die Todesumstände sind bis heute ungeklärt. In und an Amoussous Körper finden sich weder Spuren eines brandbedingten Ablebens noch Zeichen äußerer Gewaltanwendung. Der rätselhafte Tod des Sylvio Amoussou bekommt in diesen Tagen, in denen der Lübecker Brandprozeß gegen den Libanesen Safwan Eid mit den Vorträgen der Brandgutachter in eine entscheidende Phase gerät, zentrale Bedeutung. Über die Sachverständigen-Berichte soll geklärt werden, wo das tödliche Feuer gelegt wurde - im ersten Obergeschoß des Gebäudes, wie die Staatsanwaltschaft annimmt, oder im hölzernen Vorbau, wo die Verteidigung den Ausbruch des Feuers vermutet und folglich einen Anschlag mit rechtsradikalem Hintergrund nicht ausschließt.

Auch als stummer Zeuge weist Amoussou darauf hin, daß im Vorbau etwas Schreckliches geschehen sein muß. Die Staatsanwaltschaft hat bislang für Amoussous Tod keine plausible Erklärung anbieten können: Die Leiche will einfach nicht ihr Brand-Szenario passen. Einmal mehr deutet die Aktenlage an diesem Punkt auf erhebliche Ermittlungslücken der Ankläger hin.

Der letzte, der Amoussou lebend gesehen hat, ist sein Zimmergenosse im ersten Stock, Ray Soussou. Gegen 3.15 Uhr, so berichtet der heute 14jährige Mitte Februar dem Lübecker Landgericht, habe Amoussou ihn in der Brandnacht mit dem Ausruf »Feuer, Feuer« aus dem Schlaf geholt. Anschließend seien sie gemeinsam durch den Flur in Richtung Treppenhaus gegangen, das zu diesem Zeitpunkt in dicken Rauch gehüllt gewesen sei. Ray Soussou will Sylvio Amoussou anschließend noch ein paar Stufen hinab in Richtung des hölzernen Vorbaus begleitet haben.

Von der Treppe aus sieht er dort erstmals lodernde Flammen. Während Amoussou den Weg hinunter ins Erdgeschoß fortsetzt, macht Ray Soussou kehrt, um seine Mutter vor dem Feuer zu warnen. Sylvio Amoussou sieht er lebend nie wieder. Stimmen die Aussagen des Jugendlichen, ist die These der Staatsanwaltschaft, nach der das Feuer im ersten Stock ausgebrochen ist, unwiderruflich vom Tisch. Die Ankläger Michael Böckenhauer und Axel Bieler aber reagieren in gewohnter Manier: Immer wieder lassen sie im Laufe des Verfahrens durchblicken, daß sie den Zeugen, der ihr Brand-Szenario am 37. Verhandlungstag ad absurdum führt, schlicht für unglaubwürdig halten.

Doch es gibt Indizien, die Soussous Aussage stützen. Sollte es im Haus schon gebrannt haben, als Amoussou aus seinem Zimmer ins Erdgeschoß eilte, dann kaum - wie von den Ermittlern vermutet - in der Flurmitte des ersten Stocks. Denn diesen Bereich mußte der Togolese passieren, um in den hölzernen Vorbau zu gelangen. Daß er sich hierbei durch eine Feuerwand kämpfte, ist kaum vorstellbar.

Vier Tage nach dem verheerenden Brand, am 22. Januar, liegt die stark verkohlte Leiche von Amoussou auf dem Obduktionstisch des Direktors des Rechtsmedizinsichen Instituts der Uniklinik Lübeck, Prof. Dr. Manfred Oehmichen. Der Gerichtsmediziner ist ratlos. Er kann sich partout nicht erklären, wie der junge Mann ums Leben gekommen ist.

Bevor er starb, hat der Flüchtling offenbar keinen Rauch eingeatmet. Anders als bei allen anderen Lübecker Brandopfern finden sich in seinen Atemwegen und seiner Lunge weder Rußpartikel noch Kohlenmonoxid. Oehmichen ist sich deshalb sicher, daß Amoussou nicht durch das Feuer zu Tode gekommen sein kann. Doch der Mediziner findet auch keinerlei Spuren äußerer Gewalteinwirkung.

Dafür macht der Pathologe eine andere wesentliche Entdeckung. »Der Leiche aufgelagert und locker um die Leiche herumgewunden«, vermerkt er in seinem Bericht, »findet sich ein dünner Draht, der verrußt ist.« Aber das mysteriöse Stück Metall, das laut Oehmichen rund einen Meter lang und zwei Millimeter dick ist, erregt wochenlang nicht das Interesse der Staatsanwaltschaft. Erst als die Verteidigung den Lübecker Oberstaatsanwalt Dr. Klaus-Dieter Schultz mit der Nase auf den Vermerk des Rechtsmediziners stößt, werden die Ermittler endlich aktiv.

Am 10. April, fast drei Monate nach der Obduktion, schicken sie einen Kriminalbeamten in die Rechtsmedizin, um sich dort ein verkohltes Stück Draht aushändigen zu lassen. Die Metallschnur hat sich inzwischen gestreckt - auf zwei Meter Länge bei einem Umfang von nur einem Millimeter. Doch damit nicht genug: Obwohl Eisen durch intensive Feuereinwirkung korrodiert, ist der Draht, der in der Asservatenkammer landet, an mehreren Stellen nicht verrostet, sondern blitzblank.

Die Ermittler, inzwischen auf Touren gekommen, forschen weiter: Sie inspizieren die Brandruine, knipsen Kabel ab, sammeln Drahtspuren zusammen. Und finden bei ihrer Suche im gesamten Haus kein einziges Stück Metall, das in seiner Beschaffenheit der Metallspule gleicht, die um Sylvio Amoussous Körper gewickelt war. Sollten die Rechtsmediziner den Draht nicht vertauscht haben, muß irgendjemand die Metallschnur von außerhalb in das Haus mitgebracht haben. Die Brandleger?

Warum das Metall unbekannter Herkunft um den Toten gewunden war, dafür hat die Staatsanwaltschaft in ihren umfangreichen Berichten bisher keine Erklärung gesucht. Auch der Fundort der Leiche bringt sie nicht ins Grübeln. Klar ist: Amoussou starb nicht auf der Flucht vor dem Feuer, das nach Auffassung der Ermittler zunächst im ersten Stock wütete. Von der Treppe aus dem Obergeschoß führt ein gerader Weg zur Tür und den Fenstern des Vorbaus. Die Leiche des 27jährigen aber wird in einer abgelegenen Ecke des Vorbaus, abseits des möglichen Fluchtweges, geborgen. Direkt daneben befindet sich der Durchgang zum Erdgeschoß des Hauses, das in der Brandnacht vom Feuer verschont blieb. Warum gelang es Amoussou nicht, sich in diesen Bereich zu retten?

Der Erklärungsnotstand der Ankläger aber geht noch weiter. Kein Opfer des Lübecker Brandanschlages weist dermaßen starke Verbrennungen auf wie Sylvio Amoussou. Dafür gibt es bislang nur zwei plausible Deutungen: Entweder hat es im hölzernen Vorbau am längsten und damit zuerst gebrannt, oder es hat eine besonders starke Hitze-Entwicklung gegeben, die darauf schließen läßt, daß hier Brandbeschleuniger im Spiel waren. Beide Szenarien aber bestärken allein die These der Verteidigung, nach der der Brand im Vorbau seinen Ausgang nahm und möglicherwiese von Tätern gelegt worden ist, die sich von außen Zutritt verschafften.

In die Version des Tathergangs, auf die sich die Staatsanwälte festgelegt haben, passen die extremen Verbrennungen des Flüchtlings hingegen nicht. Sie werden folglich in der Anklageschrift auch nicht gewürdigt. Obwohl das Gutachten des Rechtsmediziners Oehmichen mehr Fragen aufwirft als beantwortet, erkennen die Ermittler unmittelbar nach dem Brandanschlag keinen weiteren Aufklärungsbedarf. Bereits am 29. Januar 1996, elf Tage nach dem Feuer, gibt Staatsanwalt Böckenhauer die Leiche des Brandopfers zur Feuerbestattung frei.

In ihrer Anklageschrift bringen die Staatsanwälte schließlich die Theorie ins Spiel, daß Amoussou durch einen Atemstillstand, ausgelöst durch plötzlichen Sauerstoffmangel, starb, noch bevor er giftige Brandgase einatmen konnte. Warum aber die Flammen gerade im Vorbau der Luft Unmengen Sauerstoff entzogen haben sollen, wo es laut Anklage doch zunächst nur im ersten Stock gebrannt hat, darauf finden sie keine Antwort.

Statt dessen geben die Ankläger - die Ermittlungen sind offiziell längst abgeschlossen - ein Gutachten über die Todesumstände Amoussous bei dem im Dienste des Kieler Landeskriminalamtes stehenden Diplom-Ingenieur Dr. Herdejürgen in Auftrag. Doch auch dessen Untersuchungsbericht bringt keine Aufklärung.

Die Ungereimtheiten bereinigt der Sachverständige mit einer kühnen Beweisführung. Herdejürgen kramt eine angejahrte Studie aus Norwegen hervor, nach der aus unbekannten Gründen bei acht von 286 Brandopfern keine erhöhten Kohlenmonoxid-Werte im Blut und kein Ruß in der Lunge gefunden wurde. Damit ist für den Gutachter und die Staatsanwälte der Fall klar: Der Tote gehört zu den ganz seltenen Brandopfern, bei denen sich unerklärlicherweise keine Rauchgasspuren im Organismus nachweisen lassen. Ein Rätsel wird mit einem Rätsel gelöst.

Marco Carini