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junge Welt, Donnerstag, 10. April 1997, Nr. 83, Seite 6, inland

>> Rechtsmediziner entlastet Angeklagten

> Lübeck: Abhörprotokolle werden nicht eingeführt. Verfahren gegen Grevesmühlener - wegen Autodiebstahls

Das Abhören von Gesprächen Safwan Eids in der Besucherzelle war mit der Würde des Menschen nicht vereinbar und machte den Angeklagten zum »bloßen Objekt des Ermittlungsverfahrens«. Zu diesem Schluß kam am Mittwoch der Vorsitzende Richter im Lübecker Brandprozeß, Rolf Wilcken. Folglich werden die Protokolle der Abhöraktion vor Gericht nicht verwendet. Während Staatsanwalt Michael Böckenhauer im März noch mit Nachdruck beantragt hatte, die Aufzeichnungen im Prozeß zu nutzen, ließ Wilcken keinen Zweifel daran, daß die Maßnahme eine gesetzwidrige Ermittlungstätigkeit darstellt. Zudem machte am gestrigen Verhandlungstag der Rechtsmediziner Manfred Oehmichen umfangreiche Angaben über bei den Opfern festgestellte Verbrennungen.

Die Lübecker Ankläger hatten bereits wenige Tage nach der Verhaftung Eids sechs Gespräche mit dessen Brüdern und Vater abhören lassen. Da der Libanese bestreite, für den Brandanschlag auf die Flüchtlingsunterkunft verantwortlich zu sein, sei dieser Eingriff notwendig gewesen, verteidigte die Staatsanwaltschaft damals ihre Maßnahmen. Aufgrund der abgehörten Gespräche fühlte sich die Behörde in ihrer Behauptung bestätigt, Zeugen seien von Angehörigen der Familie Eid unter Druck gesetzt worden. Wilcken stellte nun am Mittwoch klar, die Abhöraktion habe nicht der Vorbeugung, sondern der Strafverfolgung gedient und sei durch den zugrundegelegten Paragraphen 100 c nicht gedeckt gewesen. Auch ein Untersuchungshäftling habe Anspruch auf eine unantastbare »private Stätte«. Der Bundesgerichtshof habe den Wohnungsbegriff weit ausgelegt.

Noch weitere Widersprüche mußten die Ankläger am 50. Verhandlungstag hinnehmen: Gutachter Oehmichen schloß aus, daß Safwan Eid in der Tatnacht direkt mit Flammen in Berührung gekommen sei. Die Verbrennungen an den Ohren des Libanesen seien wohl nur durch Hitzeeinwirkung von hinten, nicht aber durch offenes Feuer entstanden, sagte der Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts der Uniklinik Lübeck. Nach dem von der Staatsanwaltschaft behaupteten Szenario soll Eid Benzin oder eine andere nicht näher definierte brennbare Flüssigkeit im ersten Stock des Gebäudes ausgeschüttet haben.

Auch beim Tod von Sylvio Amoussou war nach den Untersuchungen Oehmichens wahrscheinlich kein Brandbeschleuniger im Spiel. Der Mediziner stellte mehrere Thesen über Ursachen des Todes von Amoussou auf. Demnach sei gut möglich, daß der Flüchtling an einem Hitzeschock gestorben sei. Aber auch äußere Gewalteinwirkung sei nicht definitiv ausgeschlossen; einen Befund für diese These gebe es allerdings nicht. Die Leiche Amoussous war im hölzernen Vorbau des Gebäudes aufgefunden worden. Da bei ihr nicht die für Brandopfer üblichen hohen Kohlenmonoxid-Werte festgestellt werden konnten, liegt der Verdacht nahe, daß Amoussou durch andere Einflüsse ums Leben kam. Jener Draht allerdings, der leicht umwunden auf Amoussous Leiche lag, lasse keinen Rückschluß darauf zu, daß der Flüchtling erwürgt worden sei, sagte Oehmichen.

Nur wenige Meter vom Lübecker Landgerichtssaal entfernt wird am Donnerstag ein weiterer Prozeß stattfinden, der möglicherweise nicht nur räumlich eng mit dem Verfahren gegen Safwan Eid in Verbindung steht. Vor dem Amtsgericht der Hansestadt werden drei der vier Männer aus Grevesmühlen stehen, die zunächst als Tatverdächtige für den Brandanschlag festgenommen worden waren. Trotz Brandspuren und Selbstbezichtigungen wird gegen die Männer nicht weiter ermittelt. Nun müssen sie sich vor Gericht verantworten, da sie in der Brandnacht in Lübeck Fahrzeuge aufgebrochen und gestohlen haben.

Wolf-Dieter Vogel