junge Welt, Mittwoch, 16. April 1997, Nr. 88, Seiten 14/15, vorort
Mit gesenktem Blick, das Gesicht puterrot angelaufen, verfolgt Heiko P., wie ihm der Prozeß gemacht wird. Seine Hände hält er fast während des gesamten Verfahrens gefaltet, so als wolle er beten, seine Stimme klingt dünn. Immer wieder muß der schwergewichtige 23jährige mit den schlechtgeschnittenen strohblonden Haaren und dem spärlichen Oberlippenbart seine Aussagen unterbrechen. Tränen rollen über seine pausbäckigen Wangen - einmal ordnet Richter Andreas Lehnert gar eine Verhandlungspause an, weil P. von einem Weinkrampf geschüttelt wird.
Ganz anders Dirk T., genannt Üz, der mit seinem Freund Schulter an Schulter auf der Anklagebank sitzt: Der große, stämmige Mann, dessen dunkelblonde Haarwellen bis weit zwischen die Schulterblätter reichen, ist bemüht, die innere Anspannung nicht sichtbar werden zu lassen. Während Heiko P. sich in den Prozeßpausen im Verhandlungssaal vor den laufenden Kameras versteckt, flaniert T. scheinbar unbeeindruckt vom Blitzlichtgewitter über den Gerichtsflur.
Die beiden sind vor dem Lübecker Amtsgericht angeklagt, zwischen Januar und März vergangenen Jahres mehrfach Autos aufgebrochen zu haben. Zum Teil haben sie die Wagen noch am Tatort ausgeräumt, zum Teil haben sie sie kurzgeschlossen und gestohlen. Auf einer der zahlreichen Beutetouren war auch ein Verwandter von P., der Grevesmühlener Marco K., dabei. Auch er sitzt, sichtlich nervös, auf der Anklagebank. Doch in dem Verfahren bleibt er allenfalls eine Randfigur. Denn der Tatvorwurf - es geht um schweren Diebstahl - macht die besondere Bedeutung des Prozesses nicht aus. Heiko P. und Dirk T. sind zwei der vier jungen Männer, die als die »Grevesmühlener« in die bundesdeutsche Prozeßgeschichte eingegangen sind.
Die beiden heute 23jährigen waren, wie auch ihre Freunde Maik W. - Spitzname »Klein-Adolf« - und René B. in der Nacht zum 18. Januar, als das Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße in Flammen aufging und zehn Menschen dabei ums Leben kamen, mehrfach in Lübeck - zum Teil in unmittelbarer Nähe des Tatortes - gesehen worden. Und auch eine der Diebestouren, die hier im Lübecker Amtsgericht verhandelt werden, fand in genau dieser Nacht statt. Sie ist Teil des Alibis der Grevesmühlener.
Alle Beteiligten versuchen, die Bedeutung des Prozesses herunterzuspielen. »Es geht hier nur um ein Verfahren gegen geständige Autoknacker«, bemüht sich Ankläger Günter Möller um das, was er für eine »Klarstellung« hält. Und der Mann ist das lebendige Gegenbeispiel für seine eigene Behauptung. Daß er, der leitende Lübecker Oberstaatsanwalt, für das erstinstanzliche Verfahren, in dem es nur um ein Allerweltsdelikt gehen soll, als Ankläger in die Bütt steigt, belegt die hohe Relevanz des Termins für den Lübecker Brandprozeß. Auch die zahlreich versammelten Journalisten, die die Zuhörerbänke füllen, wären nicht erschienen, ginge es hier nur um lapidare Autoaufbrüche.
Die Verbindung zwischen den beiden Verfahren, die Verteidigung, Anklage und Gericht so gerne ausblenden würden, ist allgegenwärtig. Der Verhandlungssaal, in dem bislang 51mal gegen Safwan Eid verhandelt wurde, liegt nur wenige Meter entfernt.
Als hätte es dieses Symbols noch bedurft, lagert unter einer Treppe - nur sechs Meter vis à vis des Raumes 168, in dem gegen die Grevesmühlener Autoknacker verhandelt wird - das nur teilweise durch eine weiße Stoffplane verdeckte sperrige Modell des Flüchtlingsheimes, an dem die Brandzeugen ihre Beobachtungen illustriert hatten.
Und dann ist da noch Ulrich Haage, der Nebenklägeranwalt aus dem Brandprozeß, der sich gegen Safwan Eid als willfähriger Helfer der Staatsanwaltschaft und hier als Verteidiger von Marco K. versucht. »Interessenskonflikte« sehe er da keine, gibt er gutgelaunt vor laufenden Kameras zu Protokoll: »Daß der Brandanschlag etwas mit den Grevesmühlenern zu tun hat, ist doch nur eine Erfindung der Verteidigerinnen von Safwan Eid.«
Als sei es abgesprochen, fragen weder Richter noch Ankläger noch die Verteidiger bei der Rekonstruktion der Diebestour in der Brandnacht nur ein einziges Mal nach einer Tatzeit. Berührungspunkte zwischen den beiden kriminellen Taten werden umschifft. »Was die Angeklagten in der Nacht in Lübeck noch getan haben, spielt in diesem Verfahren keine Rolle«, betont Oberstaatsanwalt Günter Möller.
Mit dürren Worten und fast lautloser, manchmal tränenerstickter Stimme schildert Heiko P. die Ereignisse der Nacht. Wäre da nicht der schreckliche Verdacht, er könnte an dem todbringenden Anschlag beteiligt gewesen sein, man würde das pure Mitleid für dieses fleischgewordene Häufchen Elend verspüren, das keinen Ausgang aus seiner kriminellen Biographie mehr findet. »Ich kann nichts mehr machen«, bricht es plötzlich auf die Frage, wie er sich seine Zukunft vorstelle, aus ihm heraus. Dann gehen seine Worte im Schluchzen unter.
Wieder halbwegs gesammelt, berichtet Heiko P. seine Version der Tatnacht. Nachdem man schon - in leicht veränderter Besetzung - am Abend zuvor gleich reihenweise Autos, bevorzugt Typ Golf, »aufgemacht« habe, seien er und seine drei Grevesmühlener Kumpels erneut zur Diebestour nach Lübeck aufgebrochen. René B., der auf der Anklagebank fehlt, weil das Gericht seinen derzeitigen Wohnsitz nicht kennt, habe gesagt, »wollen wir noch mal los, das lief so gut«. In Lübeck angekommen, habe man die Notausgangstür einer Tiefgarage geöffnet, die Alu-Felgen eines Fahrzeuges abmontiert, sie später aber stehengelassen.
Danach habe er, erzählt Heiko P. mit kaum noch wahrnehmbarer Stimme, einen schwarzen Golf mit einem Schraubenzieher geöffnet, den Maik W. dann kurzgeschlossen habe. Dirk T. sei mit dem Fahrzeug gefahren, doch nach kurzer Zeit »ging der Wagen einfach aus«. Nach erfolgreichem Neustart hätten die Freunde sich dann getrennt. Dirk T. habe das Fahrzeug nach Grevesmühlen gefahren - abrupt bricht die Schilderung ab. Sie endet zu einem Zeitpunkt weit bevor im Flüchtlingsheim an der Hafenstraße die ersten Flammen schlugen.
»Alles anders machen«, will er nun, verspricht er dem Gericht. Er erzählt von einer Lehre, die er abbrechen mußte, weil der mecklenburgische Handwerksbetrieb nach der Wende Konkurs anmelden mußte. Von seiner Zeit bei der Bundeswehr, wo er es nur zum Gefreiten brachte. Davon, wie er sich zum Gabelstaplerfahrer ausbilden ließ und später seinen Job verlor, weil Polizisten und Journalisten nach der Brandnacht mehrfach versucht hatten, seine Vorgesetzten über ihn auszuquetschen. Inzwischen habe er einen neuen Job als Gummiwerker gefunden - sein Firmenchef wisse nichts von seiner Vergangenheit und von dem schrecklichen Verdacht, der auf ihm lastet. »Ende Mai erwartet meine Freundin ein Kind«, berichtet er. Es ist das einzige Mal, daß sich während der Verhandlung seine Miene aufhellt.
Auch Dirk T. hat eine ähnliche Geschichte zu erzählen - er tut es in monoton herausgepreßten Sätzen. Vorzeitig hat er die polytechnische Oberschule nach acht Jahren verlassen, frühzeitig ist er »im Streit« bei seinen Eltern ausgezogen, vorzeitig hat er die Schlosserlehre abgebrochen, vorzeitig auch die Segel bei einer Umschulungsmaßnahme gestrichen, weil er »mit den Ausbildern nicht klargekommen« war. Jobs im Tiefbau und lang andauernde Zeiten der Arbeitslosigkeit hätten sich abgewechselt. Doch nun habe er eine »ABM-Maßnahme«, wolle auch »eine Familie« gründen. Und mit der Vergangenheit brechen. Rundum erneuert gibt sich T., der sich auch gerne als geläuterter »Deutscher« darstellt, dessen rechte, ausländerfeindliche Einstellung nicht mehr als eine längst vergangene Jugendsünde sei.
Doch seine, wie auch Heiko P.s Kontakte zur rechtsradikalen Szene spielen in dem Prozeß keine Rolle. Nur ein einziges Mal streift er das Thema Hafenstraße. »Große Probleme« habe vor allem seine Freundin, die immer wieder auf den Verdacht angesprochen werde. »Die Leute fragen: Wie kannst du nur mit dem zusammensein?«
Kantinengespräche. Die Verfahrenspause vor den Plädoyers nutzen Dirk T. und Marco K., um sich in der Gerichtskantine einen Kaffee einzuverleiben. Sie reden - leise - über die Diebestouren und die Nacht zum 18. Januar 1996. Marco K. flüstert Dirk T. zu, er hätte ja »bewußt keinen konkreten Namen genannt«. Dann ergänzt er: »Das müßt ihr unter euch vier abmachen.«
Die Plädoyers nehmen die Angeklagten entgegen, wie sie bereits das gesamte Verfahren über sich haben ergehen lassen: Dirk T. mit unbewegter Miene, fast versteinert, Heiko P. mit gesenktem Kopf, die eigenen Fußspitzen fest fixiert. Für Dirk T. fordert Oberstaatsanwalt Günter Möller eine Bewährungsstrafe von insgesamt einem Jahr, für den bereits mehrfach straffällig gewordenen »Bewährungsversager« Heiko P. eine Verurteilung zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung. Als der Richter den Angeklagten das Schlußwort gibt, bleibt Heiko P., erneut den Tränen nahe, stumm. Dirk T. preßt nur ein »Das tut mir unendlich leid« hervor.
Urteilsverkündung. Dirk T. wird zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Sofort nimmt er das Urteil an, auch Staatsanwalt Möller bekundet, auf Rechtsmittel zu verzichten. Der Grevesmühlener bleibt in Freiheit und bekommt richterlich attestiert, daß er auf dem Weg nach Grevesmühlen war, als im Flüchtlingsheim in der Hafenstraße gezündelt wurde. Weil keiner der Verfahrensbeteiligten seine Schilderung angezweifelt hat, wird die angebliche Beutefahrt Teil der Urteilsbegründung. Dirk T. wird zum Alibi verurteilt.
Heiko P. kommt nicht so billig davon. Amtsrichter Andreas Lehnert bescheinigt dem Grevesmühlener zwar, daß er vor Gericht »einen guten Eindruck hinterlassen« habe, doch er attestiert ihm auch eine »rechtsfeindliche Einstellung«. Wegen seiner Vorstrafen und der »wesentlichen Beiträge«, die Heiko P. zu den verhandelten Autodiebstählen geleistet habe, sei eine Bewährungsstrafe nicht in Frage gekommen.