junge Welt, Donnerstag, 24. April 1997, Nr. 95, Titelseite
Im Lübecker Brandprozeß wird es vermutlich zu keiner Verurteilung des angeklagten Libanesen Safwan Eid kommen. So läßt sich eine Zwischenbilanz zusammenfassen, die das Gericht am gestrigen Mittwoch zog. Richter Rolf Wilcken betonte, daß gegen Eid kein für ein Urteil hinreichender Tatverdacht besteht. Er sehe weder ein mögliches Motiv Eids noch materielle Beweise, die Aufschluß über den Ablauf der Brandnacht geben könnten. Wilcken betonte jedoch auch, daß es, zumindest »in diesem Verfahren«, nicht zu Ermittlungen gegen die vier Rechtsradikalen aus Grevesmühlen kommen werde, die sich in der fraglichen Nacht zumindest in der Nähe des Hauses in der Lübecker Hafenstraße aufgehalten hatten.
Bei dem Brandanschlag am 18. Januar 1996 waren zehn Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft ums Leben gekommen.
(Siehe auch Bericht auf Seite 5)
junge Welt, Donnerstag, 24. April 1997, Nr. 95, Seite 4, inland
Die im Lübecker Brandprozeß vorgelegten Beweise reichen nach Ansicht des Vorsitzenden Richters bisher nicht für eine Verurteilung des angeklagten Safwan Eid aus. Bei einer vorläufigen Bewertung der vergangenen 52 Prozeßtage erklärte Richter Rolf Wilcken am Mittwoch, er sehe keine hinreichende Belastung. Die Beweisaufnahme habe zwar ergeben, daß es im Haus Streit gegeben habe; ob dieser aber Motiv für eine Brandstiftung sei, erscheine »sehr, sehr fragwürdig«.
Seit September vergangenen Jahres verhandelt die Erste Große Strafkammer des Landgerichts gegen den Libanesen Safwan Eid, dem die Staatsanwälte Rolf Böckenhauer und Klaus-Dieter Schultz besonders schwere Brandstiftung vorwerfen. Bei dem Brand in dem Lübecker Flüchtlingsheim am 18. Januar 1996 waren zehn Menschen ums Leben gekommen. Als angebliches Motiv Eids für die Tat hatten die Staatsanwälte Rache nach einem Streit mit Hausbewohnern behauptet. Über 100 Zeugen und zahlreiche Sachverständige hat das Gericht in den sieben Prozeß-Monaten gehört.
Wilcken schloß sich dem an, was er als die Meinung »aller ernstzunehmenden Sachverständigen« bezeichnete: Daß es nämlich einen Brandherd im Flurbereich des ersten Stockwerks gegeben haben soll. Den Brandschutz-Professor Ernst Achilles aus Frankfurt am Main, der bis zuletzt von einem Brandausbruch im Bereich des hölzernen Vorbaus und damit von einer Brandstiftung von außen ausgegangen war, zählt Wilcken offenbar nicht mehr zu den seriösen Experten. Achilles war als Gutachter entlassen worden, nachdem er den Experten der Kriminalpolizei Vorwürfe gemacht hatte, weil aus deren Obhut mehrere wichtige Beweisstücke vom vermuteten Brandausbruchsort verschwunden sind.
Nicht zuletzt deswegen wird, wie Wilcken beklagte, unklar bleiben, ob Brandbeschleuniger verwendet worden seien. Auch wie und wann der Brand im Vorbau entstanden ist, konnten, so Wilcken, die Sachverständigen nicht hinreichend erklären. Tür und Fenster seien nach Ansicht der Experten geschlossen gewesen, über die Scheiben gebe es keine Erkenntnisse. Auch die Brandausbruchszeit könne kaum eingegrenzt werden.
Völlig ungewiß ist nach Ansicht des Richters auch das Schicksal von Silvio Amoussou. Die Leiche des verbrannten Mannes war im Vorbau gefunden worden. Aber in der Lunge und den Atemwegen konnten keine Spuren von Kohlenmonoxid gefunden werden. Auch Spuren von Gewalteinwirkung entdeckten die Gerichtsmediziner nicht. Ein um Amoussous Oberkörper gewickelter Draht, der auf ersten Fotos der Leiche noch zu erkennen ist, gehört zu den Asservaten, die aus der Gerichtsmedizin verschwanden.
Die Verteidigung des Angeklagten hatte immer wieder an vier Neonazis aus Grevesmühlen erinnert, von denen drei in der Brandnacht am Tatort waren und bislang unter anderem keine glaubwürdige Erklärung liefern konnten, wie sie sich Versengungen am Haupthaar zugezogen hatten. Sie waren zunächst als Verdächtige festgenommen worden, wurden aber wieder freigelassen, weil sie Alibis vorweisen konnten, die die Verteidigung Safwan Eids jedoch anzweifelt.
Wilcken betonte jedoch, das Gericht sei nicht gehalten, über Schuld oder Unschuld anderer zu befinden. Alles, was zu den vieren angeführt werde, sei in diesem Verfahren nur unter dem Aspekt einer möglichen Entlastung des Angeklagten zu sehen. Entlastung aber setze eine hinreichende Belastung voraus, die »sehe ich als nicht gegeben«. Wilcken forderte die Verfahrensbeteiligten auf, unter diesem Aspekt die Relevanz der vorliegenden Beweisanträge zu überdenken. Nach seinen Angaben gibt es noch rund 50 unerledigte Beweisanträge.
(jW/AP)