junge Welt | Inland |
01.07.1997 |
»Trotz des Freispruchs haben sie uns verurteilt!« |
Erklärung von Überlebenden des Brandanschlags zum Prozeß-Ausgang |
Safwan ist endlich freigesprochen worden. Der furchtbare Verdacht gegen ihn war zu keiner Zeit begründet. Der Prozeß hat gezeigt, daß sich dieser Verdacht nicht nur gegen ihn gerichtet hat: Gemeint waren wir alle. Von Anfang an waren die Ermittlungen gegen uns gerichtet - schon am Tag des Brandanschlags, als noch die jungen Deutschen als mögliche Täter verhört wurden. Die Ärzte haben unser Blut genommen, um uns auf ansteckende Krankheiten zu untersuchen - auf Hepatitis, auf Tuberkulose und auf Aids. In diesen Krankheiten wollten sie Hinweise für ein Motiv suchen: ein Motiv der Verzweiflung oder ein Motiv der Rache für die Infektion mit einer ansteckenden Krankheit. Die Ermittler wollten unser Leben aushorchen, um uns in die Nähe von Sucht, Unmoral und Kriminalität zu bringen. Polizei und Staatsanwaltschaft haben damit begonnen, dann haben die Medien diese Unterstellungen aufgenommen und weiter Lügen erfunden: Geschichten über Streit und Eifersucht, über Prostitution und Pornographie, über Autoschiebereien und schließlich den Handel mit Rauschgift. Nicht einmal unsere Toten lassen sie in Ruhe. Das Gericht hat spekuliert: »Bei Sylvio Ammoussou ist alles denkbar - vom Opfer bis zum Täter.« Es ist so einfach, jetzt die Toten für den Brand verantwortlich zu machen: So brauchen sie unter den Deutschen nicht nach Tätern zu suchen. Als Zeuginnen und Zeugen sind wir gefragt worden, ob wir unsere Kinder »wie Sklaven halten«. Noch einmal fragen wir zurück: »Wir fragen Euch Weiße - wie hält man einen Sklaven? Gerade die Mütter, die ihre Kinder in der Hafenstraße allein erzogen haben, sind gefragt worden, warum unsere Kinder verschiedene Namen tragen, ob sie verschiedene Väter haben, wie häufig wir Besuch von Männern gehabt haben - wir fragen zurück: warum nicht von Frauen? Die schlechten Phantasien sind in Euren Köpfen. In einem Verfahren wegen mehrfachen Mordes und Mordversuchs werden wir danach gefragt, ob wir das Sozialamt betrogen haben, ob wir unerlaubt die Stadt verlassen haben, ob wir uns von Safwans Freispruch ein Bleiberecht versprechen. All diese Fragen haben nichts mit der Aufklärung des rassistischen Brandanschlags zu tun. Sie wurden nur gestellt, um uns verdächtig zu machen und die wirklichen Täter zu schützen. Wir und sonst niemand sollen das Haus angesteckt haben. Nur uns soll eine so furchtbare Tat zuzutrauen sein. Trotz Freispruchs haben sie uns verurteilt. Was hier in diesem Land denkbar ist und täglich passiert, wollen sie uns in die Schuhe schieben. Keiner von uns ist dazu in der Lage, wegen eines Streits ein Haus anzustecken, in dem unsere Familien, unsere Freunde und Landsleute leben. Zu einem solchen Verbrechen sind wir nicht fähig. Nicht bei uns, sondern hier in Europa passieren so furchtbare Dinge ohne Grund: Menschen, die einen Fluß durchschwimmen, werden vom Ufer ins Wasser zurückgestoßen. Boote werden von Kriegsschiffen gerammt, so daß Hunderte ertrinken. Auf offener Straße werden wir verprügelt oder niedergestochen. Aus fahrenden Bussen und Bahnen werden wir geworfen. Bei der Abschiebung auf dem Flughafen werden wir geknebelt, erstickt und zu Tode gespritzt. Und unsere Häuser werden niedergebrannt, weil wir keine weiße Haut haben wie Ihr. Viele schweigen zu diesen Verbrechen. Nur wenige helfen uns und klagen an. Das juristische Verfahren gegen Safwan und uns alle ist beendet. Aber für uns ist nichts beendet. Wir wollen, daß unsere Ehre und Würde wiederhergestellt wird. Und wir wollen die wirklichen Täter vor Gericht bringen. Die Nazis haben freie Hand in dieser Stadt und in diesem Land. Muß der Verlauf des Prozesses sie nicht ermutigen, weiter zu morden? Ihr faschistisches Umfeld in dieser Stadt und ihrer Umgebung wird nicht erforscht. In der Nacht vor unserer Demonstration der Trauer und Wut dürfen sie unerkannt Hakenkreuze an das verbrannte Haus und auf jüdische Grabsteine sprühen. Sie dürfen noch mehr Häuser von Migranten und Migrantinnen niederbrennen. Sie dürfen mit einem Graffito am 2. August den Anschlag auf unser Leben als »Denkmal für Hitler« feiern. Sie dürfen am Jahrestag des Gedenkens an unsere Toten Hakenkreuze an die Kapelle schmieren, in der wir uns zu Gebet versammeln wollen. Sie dürfen sich rühmen, »beim Lübecker Brand vom 18. Januar dabeigewesen zu sein«, und sie können sicher sein, daß »die Polizei (ihnen) nichts tut«. Schließlich dürfen sie ungestraft eine Kriegsflagge der Nazis entrollen, noch bevor die brennende Kirche St. Vicelin gelöscht ist. Damit unterstreichen sie ihre Drohung gegen die algerischen Flüchtlinge und uns alle: »Wir brennen Euch die Kirchen nieder, wenn Ihr Flüchtlingen Asyl gewährt.« Hat der Bürgermeister dieser Stadt nicht recht, wenn er sagt: »Man weiß, wo das rechte Umfeld ist, man kennt die geistigen Urheber - dann faßt sie doch! Wir wissen, wo sie sind, jeder weiß es. Man muß nur handeln.« Wir klagen die Männer an, gegen die der schwere Verdacht des Mordes begründet ist. Sie sagen selbst, sie haben Frau Joao-Bunga mit ihrer Tochter Susanna springen sehen, als sie die Panik aus dem Fenster trieb. Nur sie, und niemand anders, haben Sylvio Ammoussou gesehen, wie er sich brennend auf dem Boden gewälzt hat, um die Flammen zu ersticken. Sie müssen vor der Polizei am Tatort gewesen sein - und nicht an der Tankstelle, wie die Polizei alle glauben lassen will. Sie - und niemand von uns - haben Verbrennungen, die von der Gerichtsmedizin als typische Verletzungen von Brandstiftern erkannt worden sind. Wer von uns würde mit diesen Beweisen nicht lange verurteilt worden sein? Die Ermittlungen sollen wieder gegen sie aufgenommen werden. Sie sollen festgenommen werden, bevor sie alle abgetaucht sind. Wir wollen, daß sie vor Gericht gestellt werden. Vieles spricht dafür, daß sie die Täter sind, auch wenn Deutschland davon nichts wissen will. Wir wollen mit dieser gemeinsamen Erklärung die öffentliche Anklage gegen sie politisch erzwingen. Viele Fragen sind offen, die in einer Hauptverhandlung gegen sie geklärt werden müssen: Warum ist ihr Fahrzeug aus Grevesmühlen nicht am Tatort überprüft worden? Warum sind sie nicht sofort körperlich auf Benzin- und Brandspuren untersucht worden? Warum sind nicht einmal die Personalien dieser verdächtigen Personen vor Ort überprüft worden? Warum ist die angebliche Bekleidung in dieser Nacht nur bei einem Verdächtigen gesichert worden? Warum ist der 4. Verdächtige und Beschuldigte erst um 22.00 Uhr festgenommen worden? Warum ist dieser Verdächtige ohne Alibi bisher nicht einmal erkennungsdienstlich behandelt worden? Warum ist am 18. Januar nur ein Verdächtiger nach dem Grund seiner Sengspuren gefragt worden? Warum sind die Haarproben von drei Verdächtigen nicht im Labor des LKA untersucht worden? Warum hat der Generalstaatsanwalt die Ermittlungen noch am 19. Januar '96 einstellen lassen? Warum ist das angebliche Alibi von 3 Verdächtigen
nicht durch Gegenüberstellung überprüft worden? Es gibt noch viele Fragen mehr, die unsere Anwälte und Anwältinnen zusammenstellen werden. Wir haben sie beauftragt, für uns Widerspruch gegen die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Richtung Grevesmühlen einzulegen. Wir haben sie beauftragt, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, die öffentliche Anklage gegen die 4 jungen Männer Rene B./Heiko P./Dirk T./ Maik W. und mögliche Mittäter und die politisch Verantwortlichen zu erheben. Wir fordern, daß die Ermittlungen gegen die
Tatverdächtigen sofort wiederaufgenommen und sie
unverzüglich vor Gericht gestellt werden. Die Politiker und Behörden dürfen nicht vollstrecken, was die Nazis nicht zu Ende gebracht haben: die Vernichtung und Vertreibung von uns allen. Lübeck, den 30. Juni 1997 |