»Die Spurenvernichtung trägt geradezu systematische Züge«
Interview mit Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, der Verteidigerin des Libanesen Safwan
Eid im Lübecker Brandprozeß
*** In der Nacht vom 17. zum 18. Januar 1996 um 3.42 Uhr geht bei der Lübecker
Feuerwehr ein Notruf ein. Die Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße 52
brennt. Die Folgen sind bekannt: Zehn Menschen starben in den Flammen, 38 Menschen wurden
teilweise schwer verletzt.***
F: Der Brandanschlag gegen die Flüchtlinge in der Lübecker Hafenstraße liegt
nun zwei Jahre zurück. Was läßt sich deiner Meinung nach, als Safwans Verteidigerin, im
nachhinein zu den Ereignissen sagen?
Die justizielle und mediale Bewältigung des Brandes in der Lübecker Hafenstraße hat
die Republik weiter verändert.
Safwan Eid ist freigesprochen worden. Aber seit Januar 1996 geht anläßlich der Brände
in Ausländerwohnheimen - sie sind häufig - der Blick stets zuerst zu den Hausbewohnern.
Daß ein rechtsradikaler Hintergrund ausgeschlossen wird, liest man schon in den
Zeitungen, ehe die Ermittlungen so recht in Gang gekommen sind. Und wie inzwischen schon
selbstverständlich, trifft nach Stunden oder Tagen die von allen erwartete Nachricht der
Polizei ein: Es war ein Familienvater, ein Hausbewohner oder ein verschmähter
ausländischer Liebhaber. Der Ausländer ist halt so. Kaum jemand geht mehr auf die
Straße, wenn wieder ein Ausländerheim brennt.
Gerade bei den Verfahren, bei denen es um Anschläge auf Ausländerwohnungen geht, kommt
es immer wieder zu erstaunlichen Ermittlungspannen, ob in Stuttgart, Solingen, Hattingen,
Erbendorf oder Lübeck. Da fragt man sich: Warum? Es hinterläßt den Eindruck von
Systematik. Es scheint die neue Linie zu sein, die dem nationalen Interesse dient. Denn
die Ursache der aufkommenden Barbarei scheinen so die Ausländer selbst zu sein. Safwan
Eid ist frei, aber die Täter auch.
F: Gibt es neue Erkenntnisse über die Nacht zum 18. Januar 1996, über den
Tathergang, den Tod von Sylvio Amoussoo, über die Grevesmühlener und ihre Alibis?
Während des Prozesses gab es weitere Erkenntnisse, unter anderem ein Geständnis des
Grevesmühlener Jugendlichen, der sich »Klein-Adolf« nennen läßt. Im Dezember 1996
hatte er einem Jugendlichen aus Güstrow erklärt, er sei bei dem Brandanschlag auf das
Asylbewerberheim in Lübeck dabeigewesen. Die Spur wurde von der Staatsanwaltschaft nicht
weiter verfolgt mit der Begründung, »Klein-Adolf« habe für den Brand gegenüber dem
Zeugen ein unzutreffendes Datum angegeben. Es handele sich daher nicht um ein glaubhaftes
Geständnis.
Seit Beendigung des Prozesses gegen Safwan Eid am 30. Juni 1997 gab es meines Wissens
keine neuen Ermittlungen mehr und schon gar keine in die Richtung der Personen, die die
typischen Brandlegerspuren aufwiesen - die Grevesmühlener. Zwar gab es eine gewisse
Bewegung beim Justiz- und Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein, nachdem das
Gericht in der mündlichen Urteilsbegründung erklärt hatte, die Ermittlungen hätten
nicht immer das Maß an zu fordernder Gründlichkeit erreicht, aber seit Vorliegen der
schriftlichen Urteilsbegründung behaupten die Ministerien, das Gericht stimme in der
tatsächlichen und rechtlichen Bewertung des Sachverhalts zu den entscheidenden Punkten
mit der Bewertung der Staatsanwaltschaft überein. Jeglicher Vorwurf gegenüber der
Staatsanwaltschaft sei verfehlt.
F: Das Haus in der Lübecker Hafenstraße wurde Ende letzten Jahres abgerissen.
Was bedeutet die Beseitigung der Brandruine für die sogenannte juristische
Wahrheitsfindung?
Der Abriß des Hauses bedeutet für die Wahrheitsfindung nicht viel. Denn die
Spurenvernichtung fand viel früher statt. Alles, was auf einen Brandanschlag von außen
hätte hindeuten können, wurde nicht gesichert oder vernichtet, weil bereits feststand,
wer der Täter sein sollte.
Zu Lasten von Safwan Eid wurde angebliches »Täterwissen« erfunden, das
öffentlichkeitswirksam die Inhaftierung rechtfertigen sollte. Zugunsten der
Grevesmühlener wurde eine nie bestätigte Brandausbruchszeit erfunden, verschwanden
Haarproben im Gewahrsam der Polizei, sind Gegenüberstellungen unterlassen worden, wurden
zur Bestätigung offensichtlich falscher Behauptungen über die Ursache der
Haarversengungen Fischknochen und Beile untersucht, kurz: Es wurde mit allen Mühen ein
Alibi für sie konstruiert, obwohl es nie eines gab.
Bezüglich des Hauses wurde im ersten Stock das wesentliche Beweismittel, die Spanplatte,
auf die Benzin gegossen worden sein soll, vernichtet. Im Vorbau wurden - außer daß man
mit einem Gerät nach Resten von Brandbeschleunigern gesucht hat - überhaupt keine
Untersuchungen vorgenommen. Nicht mal die Position der dort liegenden Leiche des Sylvio
Amoussou wurde irgendwie festgehalten oder gar fotografiert, geschweige denn der auf ihm
liegende oder um seinen Körper herumgewundene Draht.
Man hat sich nicht um Durchbrennungen der dicken Bodenbohlen direkt hinter der
Hauseingangstür gekümmert, gar behauptet, es gäbe sie gar nicht. Man hat einen
zusammengeschmolzenen Drahtglasklumpen, ehemals die Füllung der Hauseingangstür,
entsorgt. Ebenso einen vor der Tür gefundenen zusammengeschmolzenen Leichtmetallklumpen,
der alles gewesen sein könnte: vom Zünder bis zur Briefkastenklappe. Und man hat innen
liegende Fensterglasscheiben nicht gesondert asserviert und untersucht, sondern mit allem
möglichen Glasmüll in einem großen Sack versenkt. Der Tod des Hausbewohners Sylvio
Amoussou hat die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht interessiert, obwohl der
Gerichtsmediziner erklärt hatte, Amoussou müsse bereits tot gewesen sein, bevor ihn das
Feuer erreichte und die Art der Verkohlung und Verkochung der Leiche nicht zum Auffindeort
paßte.
F: Im Prozeßverlauf haben Sie den Vorwurf der schlampigen Ermittlungen gegen
die Behörden erhoben.
Sind das Verschwindenlassen von Beweismitteln/Asservaten und die einseitigen
Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft der Grund für die Unmöglichkeit der
Wahrheitsfindung?
Die Spurenvernichtung im Verfahren gegen Safwan Eid trägt geradezu systematische Züge.
Alle Spuren, die deutlich in andere Richtung wiesen, wurden mit absurden Begründungen
nicht verfolgt. Die einstigen Ermittlungen und das Vernichten von Beweismitteln hat dazu
geführt, daß die Wahrheitsfindung ganz erheblich behindert war. Trotzdem läßt sich
aufgrund des Inhalts der Akten und aufgrund der Stellungnahme des Gerichtsmediziners in
der Hauptverhandlung sagen: Es bestand zu jedem Zeitpunkt ein dringender Tatverdacht gegen
die jungen Männer aus Grevesmühlen, die in der Tatnacht vor dem Haus angetroffen wurden
und die - so der Gerichtsmediziner Prof. Oehmichen - die für Brandstifter ganz typischen
Spuren trugen. Sie hatten Motiv und Gelegenheit.
F: Es gab zwischenzeitlich drei sehr voneinander abweichende
Urteilsbegründungen. Was sind die Unterschiede im einzelnen, wie kann ein und dasselbe
Gericht zu so abweichenden Einschätzungen und Begründungen kommen? Ist das üblich vor
Gericht?
Es scheint eine wundersame Metamorphose bei der Überzeugungsbildung des Gerichts
gegeben zu haben. Noch im April 1997 stellte die Kammer im Rahmen einer Art
»Zwischenbilanz« fest, daß es keine ausreichend belastenden Momente gegen Safwan Eid
gebe. Darum sei auch dem Komplex Grevesmühlen nicht näherzutreten, obwohl im Verlaufe
der Verhandlung deutlich geworden sei, daß die Jugendlichen aus Grevesmühlen sich in
einem räumlich und zeitlich engen Zusammenhang mit der Brandlegung am hölzernen Vorbau
befunden haben müßten.
Obwohl es keine Veränderung der Beweistatsachen gab, fiel die mündliche
Urteilsbegründung am 30. Juni hinter die Zwischenbilanz zurück. Im Kern wurde zwar
wieder festgestellt, daß der vom Sanitäter Leonhardt behauptete Inhalt des angeblichen
Geständnisses von Safwan Eid mit dem möglichen Brandverlauf nicht in Übereinstimmung zu
bringen ist und wohl von zwei primären Brandherden ausgegangen werden müsse - einer im
ersten Stock und einer im hölzernen Vorbau. Ansonsten mußte man den Eindruck gewinnen,
daß das Gericht es allen Seiten recht machen wollte. Jede Seite wurde etwas abgewatscht
und jede Seite bekam ein bißchen recht.
Die schriftliche Version des Urteils legt sich auf eine Brandstiftung aus dem Kreis der
Hausbewohner fest und konstruiert eine für mich einigermaßen abwegige Version der
Ausbreitung des Brandgeschehens. Bei dieser läuft der im Vorbau tot aufgefundene Sylvio
Amoussou mit einem im ersten Stock am Schwelbrand angeschmorten Bein über die Treppe
hinunter in den Vorbau, wo vom angeschmorten Bein auf einmal eine Stichflamme emporzischt
und Amoussou in der Folge tot umfällt - allerdings an einer Stelle, die mit dem
festgestellten Brandgeschehen im Vorbau nicht vereinbar ist.
Das Urteil ist in sich höchst widersprüchlich und mag geeignet sein, den Frieden in der
Justiz in Schleswig-Holstein wiederherzustellen. Der mit der Urteilsbegründung
hinterlassene Eindruck ist das Aufrechterhalten eines Restverdachtes gegen Safwan Eid und
gegen alle anderen Hausbewohner. Das empfinde ich angesichts der Beweisfeststellungen in
der Hauptverhandlung und angesichts der massiven Verdachtsmomente gegen die
Grevesmühlener als einigermaßen unerträglich.
F: Können Sie uns die gegenwärtige Lebenssituation der Familie Eid schildern?
Wie steht es um ihren Aufenthalt?
Die Familie Eid verfügt aufenthaltsrechtlich - wie die meisten anderen
HausbewohnerInnen - nur über eine Duldung, also eine »Aussetzung der Abschiebung«. Das
Vertrauen in den Bürgermeister der Stadt Lübeck, der immer wieder Versprechungen gemacht
und die Erwartungen in Hinblick auf einen sicheren Aufenthalt geweckt hat, ist längst
geschwunden. Zusagen der Behörden gibt es gegenwärtig nicht. Es ist ein Leben nur für
den Augenblick, ohne große Hoffnung und Perspektive, mit Angst um die Zukunft der Kinder
und ihre mögliche erneute Entwurzelung.
Bürgermeister Bouteiller und der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, Wienholtz,
haben zwar auch im letzten Jahr öffentlich ein Bleiberecht für die Bewohner gefordert.
Die Entscheidung darüber haben sie jedoch an Bundesinnenminister Kanther delegiert, der
sich allerdings für nicht zuständig erklärt hat. Die ehemaligen Hausbewohner sitzen
zwischen allen Stühlen. Es ist an der Zeit, selbst Verantwortung für die Brandopfer zu
übernehmen.
Interview: Zdravko Sisic |