nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Fri Sep  4 00:16:30 1998
 

Süddeutsche Zeitung 05.06.97 - Seite Drei

Der Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße: Die Anklage fordert Freispruch

Der Staatsanwalt muß gestehen

Auch wenn er der einzige Verdächtige blieb und die Theorien seiner Verteidiger zusammenbrachen – Safwan Eid wird wohl in wenigen Wochen frei sein

Von Cornelia Bolesch

Lübeck, 4. Juni – Staatsanwalt Michael Böckenhauer beginnt sein Plädoyer mit einer persönlichen Bemerkung. „Ich wurde verteufelt. Die Anklage wurde als Inkarnation des Bösen hingestellt. Damit kann und muß ich leben.“ Dann leitet er vorsichtig das Bekenntnis seiner bislang schwersten Niederlage ein: „Wenn die Beweise nicht reichen“, müsse ein Angeklagter freigesprochen werden. Doch die Wahrheit, die in einem Strafprozeß herausgearbeitet werden könne, sagt Böckenhauer, habe nicht unbedingt mit der echten Wahrheit zu tun.

Mehrere Stunden nach diesen Sätzen wird der Staatsanwalt Freispruch für den jungen Libanesen Safwan Eid beantragen, den er vor neun Monaten noch wegen besonders schwerer Brandstiftung angeklagt hat. Einen „Marathonläufer“ hat sich Böckenhauer damals genannt, der mit einiger Ausdauer schon noch ans Ziel kommen werde.

Doch mitten auf der Strecke, weit vor dem Ziel, hat er aufgeben müssen. Böckenhauer ist an den Mängeln seiner Anklage gescheitert. Er sieht sich auch als Opfer einer Verteidigung, die das Verfahren politisiert habe und dabei vor „Rufmord“ nicht zurückgeschreckt sei. Zehn Menschen, darunter sechs Kinder, erstickten, verkochten und verbrannten in der Nacht zum 18. Januar 1996, als das Asylbewerberheim in der Hafenstraße in Flammen aufging. Es war die bislang schwerste Brandstiftung in Lübeck.

Neun Monate tagte das Gericht, mehr als hundert Zeugen wurden gehört. Trotzdem ist letztlich im dunkeln geblieben, wer für die Katastrophe verantwortlich ist. Aber der ganze juristische Aufwand in Lübeck hat nicht nur ungelöste Rätsel hinterlassen, sondern auch manche Spekulationen gedämpft. Verschwörungstheorien und der Vorwurf linker Flüchtlingsinitiativen, es sei „rassistisch“ ermittelt worden, hatten im Gerichtssaal keinen Bestand.

Standhafter Zeuge

Die politischen Attacken trafen in Michael Böckenhauer einen Staatsanwalt, der sich selbst eher „links“ einordnet und der die SPD „wegen ihrer krummen Haltung zur Asylpolitik“ verlassen hat. Als Bilanz von 55 Verhandlungstagen mag er sich jetzt damit trösten, daß er zwar eine schwache Anklage zurückziehen mußte, aber doch nicht völlig kapituliert hat. Der Kronzeuge der Anklage ist nicht eingebrochen. Auch der Verteidigung gelang es nicht, Jens Leonhardt ins Zwielicht zu rücken. Der Rettungssanitäter blieb bei seiner Aussage, die Safwan Eid belastet. Er sagt, der Libanese habe ihm im Bus auf dem Weg zum Krankenhaus gestanden, daß Hausbewohner das Feuer gelegt hätten. „Wir warn’s“, habe Safwan Eid gesagt. Es sei Benzin an eine Tür gegossen worden, um sich an jemandem zu rächen. Das Benzin sei dann „brennend die Treppe hinuntergelaufen“ und auf einmal „stand die Treppe in Flammen“.

Doch das Bruchstück dieser Zeugenaussage hat sich mit anderen Beweisstücken nicht zu einer überzeugenden Rekonstruktion der Brandnacht gefügt. Das Puzzle blieb in großen Teilen unvollständig, und die Ankläger haben das geahnt. „Ein Freispruch ist für uns keine Niederlage“, hieß bereits vor Prozeßbeginn die Parole der Lübecker Staatsanwaltschaft. Vielleicht war sie unter dem öffentlichen Druck schon froh, daß es überhaupt zu einem Verfahren gekommen ist. Vielleicht hat sie deshalb so wenig getan, um ihre Anklage im Gerichtssaal offensiv zu vertreten.

Michael Böckenhauer ist kein Meister der Rede. Umständlich und fast tonlos referiert er sein Plädoyer. Ohne Highlights und ohne erkennbare Dramaturgie reiht sich ein Satz an den nächsten, und die Gedanken der Zuhörer gehen dabei oft auf Wanderschaft. So ist dieser Tag auch exemplarisch für die gesamte Vorstellung der Staatsanwaltschaft im Lübecker Verfahren. Er erinnert an die vielen anderen Tage im Gerichtssaal, an denen Böckenhauer und sein Kollege Axel Bieler immer wieder an die Wand gespielt wurden.

Die Szene wurde meist von Safwan Eids Verteidigung beherrscht: der jungenhaft strengen Gabriele Heinecke aus Hamburg und der elfenhaft hochmütigen Barbara Klawitter aus Hannover. Auch die Lübecker Jugendkammer hatte einen Heidenrespekt vor diesen Frauen. Selbst Richter Rolf Wilcken leistete sich anfangs aus Nervosität einige Patzer unter den wachen Blicken der Juristinnen und angesichts einer „Internationalen Kommission“ von linken Anwälten, die Heinecke aus ganz Europa als Aufpasser nach Lübeck eingeladen hatte.

Falsche Protokolle

Sie wolle die Sache „rausholen aus Schleswig-Holstein“, hat Gabriele Heinecke gesagt, raus auf eine größere Bühne. Virtuos spielten sie und ihre Kollegin dort ihre Doppelrollen als Verteidigung und Anklage zugleich. Angesichts der Kompetenz und der moralischen Selbstgerechtigkeit der beiden Frauen wirkten die Staatsanwälte manchmal regelrecht eingeschüchtert und mutlos. Unnachsichtig spießte die Verteidigung mit Hilfe kriminalistischer Lehrbücher alle Fehler auf, die es bei den Ermittlungen und bei der Spurensicherung in dem abgebrannten Haus gegeben hat.

Es sind viele Schlampereien vorgekommen. Spanplattenreste, ein Glasklumpen aus der Türfüllung und Scherben wurden nicht gesichert. Protokolle wurden nachlässig oder falsch geführt oder gar nicht erst geschrieben. Auch die Staatsanwaltschaft hat diese Mängel festgestellt. Doch paradox genug: Der Verdacht, daß das Feuer fahrlässig im Inneren des Hauses gelegt wurde, also kein Anschlag von außen war, gewann im Prozeß auch neue Konturen.

Im Haus an der Hafenstraße ist früher schon gezündelt worden. Ein Betreuer der Diakonie berichtet von Lausbubenstreichen. Mehrfach seien Zettel, die vor seinem Büro im Erdgeschoß hingen, „von unten angekokelt“ worden. Einmal fanden sich Brandspuren direkt auf der Tür. Und dann hat jemand vor dem Büro mal eine teerartige Flüssigkeit ausgekippt. Dann kamen die Hausbewohner selbst zu Wort, und ihre Erinnerungen wirkten stereotyp und abgesprochen. Anders als zuvor bei der Polizei konnte sich jetzt kaum einer mehr daran erinnen, Flammen gesehen zu haben, und wenn, dann auf keinen Fall im ersten Stock, sondern nur im Vorbau.

Manchmal war fast mit Händen zu greifen, daß irgend etwas nicht stimmte. Etwa bei den Aussagen des kleinen Ray Soussou und seines Onkels Gustave, die mit einem der Brandopfer, Silvio Amoussou, zusammen im ersten Stock in einem Zimmer gewohnt hatten. Beide sagten, sie seien wach geworden, als Amoussou „Feuer, Feuer“ rief, und seien auf den Flur gelaufen. Doch keiner will den jeweils anderen dabei gesehen haben, Ray nicht Gustave und Gustave nicht Ray, und das in einem Zimmer, das so eng war, daß die drei Betten sich berührten.

Auch was der Angeklagte selbst zu Protokoll gab, läßt viele Fragen offen. Safwan Eid hat immer erklärt, er habe unter dem Dach geschlafen und nichts mitbekommen. Darum habe er dem Rettungssanitäter auch kein Geständnis gemacht, sondern nur das erzählt, was ihm sein Vater, Marwan Eid, in der Brandnacht erzählt habe: „Die warn’s“ habe der Vater gesagt, „die haben uns die Treppe verbrannt“, und damit die Nazis gemeint. Doch Zeugen am Brandort haben von Marwan Eid solche Formulierungen nicht gehört, sondern nur, daß er sich an einen Knall erinnere und gar nichts gesehen habe.

Nicht „wir warn’s“, sondern „die warn’s“ – seltsam angepaßt wirkt Safwan Eids Version des Dialogs im Bus an jene Worte, an die sich der Sanitäter erinnert. Soll damit suggeriert werden, es könne sich nur um ein Mißverständnis handeln? Auch der Busfahrer belastet den Angeklagten. Safwan Eid habe ihm erzählt, er habe Leute „weglaufen“ sehen. Stimmt das, so hätte Safwan Eid versucht, eine falsche Spur zu legen. Doch Erinnerungen von Zeugen sind keine Beweise. Und objektive Beweise gegen Safwan Eid gibt es nicht.

Unmittelbar nach seiner Verhaftung hat die Staatsanwaltschaft ihm „Täterwissen“ zugeschrieben. Was Safwan Eid dem Rettungssanitäter gesagt habe, decke sich „mit den objektiven Erkenntnissen“ an der Brandstelle, hatte Böckenhauers Vorgesetzter, Klaus-Dieter Schultz, verkündet. Diese voreilige Schlußfolgerung war falsch. Dieser frühe Kardinalfehler der Anklage hat letztlich auch den Prozeß entschieden.

Zwar haben alle wesentlichen Experten eine Brandquelle im ersten Stock des Asylbewerberheims angesiedelt. Doch keiner hat die Entstehung des Feuers so rekonstruiert, daß sie zur angeblichen Aussage Eids passen würde: Benzin, das an eine Tür gekippt wird, um dann brennend eine Treppe hinunterzulaufen. Hier paßt etwas nicht zusammen, und auch Staatsanwalt Böckenhauer konnte in seinem Plädoyer nur versuchen, es in immer kühneren Variationen des „Denkbaren“ doch noch passend zu machen.

Kann es sein, daß Safwan Eid andere Täter schützt? Hat er dem Rettungssanitäter nur vom Hörensagen über das Feuer berichtet, an dem er gar nicht beteiligt war? Oder hat der Sanitäter einige Worte wirklich falsch verstanden, ist etwa gar nicht Benzin, sondern ein Mensch „brennend die Treppe heruntergelaufen“? Der Tod von Silvio Amoussou jedenfalls, der verkohlt am Fuß der Treppe im Vorbau gefunden wurde, gibt die meisten Rätsel auf. Er hatte als einziger keine Rußspuren in der Lunge, kein Kohlenmonoxid im Blut. Hitzeschock und akuter Sauerstoffmangel könnten die Todesursachen sein, meinte der Gerichtsmediziner. Er hielt es allerdings für unwahrscheinlich, daß Amoussou, ein kräftiger junger Mann, Flammen an seiner Kleidung nicht hätte ersticken können.

Abenteuerliche Erklärung

Spekulationen, Zweifel, Rätsel. Immer wieder drehten sich während des Prozesses die Gedanken im Kreis. Waren es doch rechte Brandstifter? Die Beweisaufnahme hat der Phantasie in dieser Richtung nur wenige Schlupflöcher gelassen. Die Haustür war verschlossen. Die Fenster im Vorbau waren vernagelt. Keinen Hinweis fanden die Ermittler, daß Fensterscheiben eingeworfen wurden.

Mit immer neuen Theorien, wie doch noch ein Anschlag auf das Haus hätte verübt werden können, rannte die Verteidigung gegen diese Tatsachen an. Hätten die Täter Benzin auch durch die Briefkastenklappe schütten können? Gäbe es nicht vier junge Männer aus Grevesmühlen, die Spekulationen liefen wohl völlig ins Leere. Drei von ihnen hatten Sengspuren an Haaren und Augenbrauen, und ihre Erklärungen dafür („einen Hund verbrannt“) waren abenteuerlich. Die bröseligen Haare, sie spielten auch in diesem Prozeß eine Rolle: Völlig entgeistert mußte Staatsanwalt Böckenhauer von einer Gerichtsmedizinerin erfahren, daß sie für die Polizei Proben dieser Haare in kleine Plastikbeutel gesteckt hatte. Eine Untersuchung im Landeskriminalamt hätte Aufschluß darüber geben können, wie „frisch“ die Verbrennungen waren.

Die Beutel, von denen der Staatsanwalt vor Gericht zum erstenmal hörte, sie sind verschwunden.

„Wir haben alles versucht“

Doch auch diese Panne ändert nichts daran, daß drei der vier Ostdeutschen rund um die Brandausbruchszeit ein Alibi haben, das auch im Prozeß nicht erschüttert wurde. Von einer Polizeistreife wurden sie an einer mehrere Kilometer entfernten Tankstelle gesehen und dann auf dem Weg zur Hafenstraße, an der das Haus schon brannte, überholt. Der vierte Grevesmühlener hat in einem geklauten und vermutlich kurzgeschlossenen Auto gesessen, das er zum Ausschlachten nach Hause fuhr.

„Wir haben alles versucht, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.“ Michael Böckenhauer und sein Kollege sind auf den letzten Seiten ihres Plädoyers angelangt. Am Ende dieses Tages in Lübeck ist offiziell, daß nur noch ein Freispruch zu erwarten ist – Safwan Eid wird in wenigen Wochen ein freier Mann sein. Der Angeklagte wirkt, wie so oft, freundlich, aber auch unbeteiligt. Den Staatsanwalt Michael Böckenhauer aber hat man noch nie so häufig erleichtert lächeln sehen wie an diesem Tag. Seinen „mit Abstand schwersten Fall“, wie er den Prozeß gegen Safwan Eid selbst einmal nannte, hat er nun hinter sich.

Copyright © 1997 - Süddeutsche Zeitung

[Lübeck - Hauptseite | Presse | Was gibt's Neues | Inhalt | Feedback ]