- VON CHRISTIAN KODZO AYIVI -
In der Rabenstraße, einem Haus des Diakonischen Werks, sind viele Flüchtlinge aus Zaire, Angola, Pakistan und Libanon untergebracht. Im Treppenhaus sitzen Frauen und beweinen ihre Toten. Die Szene erinnert an den Roman "La condition humaine" von André Malraux. Dort heißt es über Gefangene, die auf einem Schulhof eingesperrt sind: "Diejenigen, die auf dem Schulhof warten, sehen ihr Schicksal in dem Schicksal derjenigen, die zum Tode geführt werden."
"Meine Frau ist mit unserer Tochter vom dritten Stock aus dem Fenster gesprungen. Das Kind ist tot. Die Mutter liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Ich weiß nicht, ob sie die Verletzungen überlebt hat", sagt Joao Mayamba aus Angola und zündet eine Zigarette nach der anderen an. Später wird er erfahren: Auch die Frau ist tot. In einem kleinen Zimmer sitzt Jean Daniel Makondila. Er hat während des Unglücks seine sechsköpfige Familie verloren. Er selbst hat Glück im Unglück, wenn man ohne Zynismus überhaupt noch von Glück sprechen kann. Er kann keine Frage beantworten und stöhnt vor Schmerzen. Er kann nur noch weinen oder etwas Unverständliches vor sich hin murmeln. Auch die Beruhigungsspritze, die der Notarzt ihm verabreicht hat, hilft nicht, seinen Kummer zu lindern.
Für die afrikanische Gemeinschaft ist es in diesem Moment des Schmerzes unwichtig, ob es ein Anschlag oder ein Unfall war. Wichtig ist der Tod von zehn Menschen aus ihrer Mitte. Und dies ist dramatisch genug. Den Überlebenden und den Angehörigen sitzen die Angst und der Schock der Brandnacht tief im Nacken. Sie trauern um die Toten - und fürchten sich zugleich: Sind Sie die nächsten Opfer?
Die Gemeinschaft selbst zeigt sich geschlossen. Viele sind von weither angereist, um mit ihren Landsleuten zu trauern. Jeden Morgen um vier Uhr versammeln sie sich und halten eine Totenandacht nach den traditionellen Sitten. In dieser Trauergemeinschaft erleben sie ein Stück Heimat und Geborgenheit wieder.
Das Gefühl der afrikanischen Gemeinschaft ist gespalten. Auf der einen Seite Dank, auf der anderen Seite Trauer und Zorn. Sie sind dankbar für die überraschend massive Anteilnahme der Lübecker Bevölkerung, die auf den Straßen und vor dem Brandhaus Solidarität mit den Betroffenen demonstriert. Doch ob sie auch dem Beileid der Politiker Glauben schenken können, wissen viele Afrikaner nicht. Von ihnen fühlten sie sich bisher wie Menschen dritter Klasse behandelt.
Ihre Vertreter üben scharfe Kritik an der Asylpolitik der Bundesrepublik. Während in Deutschland sogar für die artgerechte Haltung von Tieren gesorgt werde, kritisieren sie, kümmere sich keiner um eine menschenwürdige Unterbringung von Asylbedürftigen. "Das Ganze ist eine einmalige Heuchelei", sagt Diangana Benkindo, Vorsitzender einer zairischen Oppositionsgruppe in Deutschland: "Zuerst schärfere Asylgesetze, eine unmenschliche Asylpraxis - und jetzt kommen sie und bekunden aufrichtiges Beileid." Im Lübecker Rathaus fordern Sprecher der afrikanischen Gemeinschaft, die "unmenschliche gesellschaftliche Isolation der Asylbewerber zu stoppen" und deren Lebensbedingungen zu verbessern.
In der Tat scheint die Hafenstraße eine Adresse wie für Aussätzige zu sein. Das Haus liegt auf dem Hafengelände fern von jeder Kultur und Zivilisation. Nur eine Straße führt dorthin, weit und breit gibt es keine Nachbarn und kein Geschäft, sondern nur Lagerhallen. In dieser Abgeschiedenheit fühlten sich die Flüchtlinge ausgeliefert. Und noch in der Unterkunft in der Rabenstraße werfen sie der Polizei vor, für ihren Schutz nichts zu unternehmen. Auf die Frage, was er nun empfindet, antwortet Diangana Benkindo: "Trauer und Wut. Es gab schon in den vergangenen Monaten Drohbriefe oder Flugblätter. Die Behörden wurden alarmiert, aber es geschah nichts." Diangana Benkindo glaubt, das Unglück hätte vermieden werden können, wenn die Behörden die Warnungen der Betroffenen rechtzeitig ernst genommen und Sicherheitsmaßnahmen getroffen hätten.
Nach der Verhaftung eines Libanesen sind die Menschen in der Rabenstraße perplex. Jean Daniel Makondila, der Mann, der seine ganze Familie verloren hat, will noch nicht recht daran glauben, daß der 21jährige Sohn seines libanesischen Nachbarn der Tatverdächtige ist. Auch dessen angebliches Geständnis überzeugt Makondila noch nicht richtig: "Wir waren doch immer zusammen. Unsere beiden Familien kannten sich gut, und unsere Kinder spielten miteinander." Von Konflikten zwischen den unterschiedlichen Nationalitäten oder Rassen weiß er nichts zu berichten. Auch Biolé, ein anderer Zairer, spricht von Harmonie zwischen den Menschen in der Hafenstraße: "Bei Jean Daniel Makondila konnte jeder ein und aus gehen. Man nannte ihn den Präsidenten aller Afrikaner. Er hat sich immer um eine gute Nachbarschaft bemüht."
Für die Bürger von Lübeck ist es eine Erleichterung, daß hinter dem Brand kein fremdenfeindliches Motiv zu stehen scheint. Die voreiligen Schuldzuweisungen und Beschimpfungen durch einzelne Afrikaner, die auf dem Lübecker Marktplatz demonstrieren, haben sich nicht bestätigt. Aber woher diese Haltung? Auf der einen Seite eine verkrampfte, fast neurotische Sippenhaftungsmentalität bei den Deutschen ("es war also keiner von uns"), auf der anderen Seite eine vorschnelle Bezichtigung der Deutschen als Schuldige ("die waren es"). Für die Afrikaner ist nach der Brandnacht klar: Die gegenseitige Fremdheit bleibt, auch wenn viele Lübecker demonstrativ die Nähe zu den Opfern suchen. Schon die Demonstration am Samstag zeigt, daß beide Gruppen, die Deutschen und ihre ausländischen Mitbürger, völlig aneinander vorbeireden. Das gilt sogar für diejenigen, die am schnellsten Solidarität mit den Opfern bekunden: Die Afrikaner machen die entsetzliche Erfahrung, daß ihre Trauer von unterschiedlichen Gruppen politisch mißbraucht wird. Deren Fahnen zeigen Lenin oder Mao und sind nicht zu übersehen.
Den Afrikanern wäre es lieber, man ließe sie in Ruhe um ihre Toten trauern. Aber nicht alle haben es so gemeint. Auch Lübecker, die, wie Marlene und Jens, mit guten Absichten gekommen sind, machen die schlimme Erfahrung, daß eine Afrikanerin ihre Wut zum Ausdruck bringt und einem französischen Journalisten erzählt, alle Deutschen seien Rassisten. Ein anderer Afrikaner beschimpft Jens als Faschisten. So viel Emotionalität hinterläßt Ratlosigkeit: "Wir sind gerade dahin gegangen, um uns mit den Betroffenen zu solidarisieren und zu zeigen, daß es nicht so ist", sagt Marlene. Auf derselben Demonstration ist eine Deutsche über das von einem Afrikaner getragene Schild empört. Die Botschaft des Schildes heißt: "...weil die Reichen zu arm sind, um mit den Ärmeren zu teilen." Die Dame fühlt sich in ihrem Mitgefühl verletzt. "Was glauben Sie, wieviel wir pro Jahr spenden und wieviel in Ihre Heimat fließt?" fragt sie den Schildträger. Hier auf dem Marktplatz wird sichtbar, was den Deutschen und ihren ausländischen Mitbürgern, vor allem den Asylbewerbern, fehlt: ein Forum, wo sie sich kennenlernen und ihre Erfahrungen austauschen können.
Marlene und Jens wurden völlig zu Unrecht beleidigt. Aber man darf sich andererseits nicht wundern, daß der Asylbewerber seinem deutschen Mitbürger nicht um den Hals fällt. Was erwartet man von jemandem, der während seines Aufenthalts in Deutschland die Räume der Polizei und der Gerichte besser kennenlernt als jede Kultureinrichtung? Wie kann er einen positiven Eindruck von seinen Gastgebern gewinnen, wenn er nie die Gelegenheit hat, mit den "Eingeborenen" in einer Kneipe zu sitzen und ein Bier zu trinken, sondern ständig mit der ablehnenden Haltung der Ausländerbehörden konfrontiert ist oder auf der Straße und in der Eisenbahn als "Neger" oder "Schwarzfahrer" beschimpft wird. Deutschland will keine multikulturelle Gesellschaft sein. Das ist sein Problem. Aber auf Dauer kann man dem Nachbarn, mit dem man in einem Boot sitzt, das Gespräch nicht verweigern.
Der Autor ist Journalist aus Togo
26. Januar 1995
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