Kieler Nachrichten 01.07.97
Von Kai-Uwe Drews
Lübeck - Der letzte Verhandlungstag im Hafenstraßenprozeß vor dem Lübecker Landgericht beginnt mit einem Novum: Bevor der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken den angeklagten Libanesen Safwan Eid von dem Vorwurf der besonders schweren Brandstiftung freispricht, dürfen Radioreporter ihre Mikrofone auf dem Richtertisch aufbauen und eine persönliche Erklärung der Jugendkammer mitschneiden. Vor der Urteilsverkündigung eine persönliche Erklärung des Gerichts
Daß eine derartige Erklärung vor der Urteilsverkündung abgegeben wird, gehört nicht unbedingt zum Alltag in deutschen Gerichtssälen. Schließlich eröffnet ein solcher Schritt Verteidigung und Staatsanwaltschaft die Chance, das Gehörte quasi in letzter Sekunde zum Anlaß für einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht zu nehmen.
Doch zu derlei Mätzchen gibt Wilcken den Prozeßparteien keinen Anlaß. Im Namen der Kammer gedenkt er der Opfer der Brandkatastrophe in der Lübecker Hafenstraße und versichert den Angehörigen das Mitgefühl der Kammer. Der Verteidigung schreibt er ins Stammbuch: "Schon aus diesem Grund war eine politische Instrumentalisierung des Verfahrens unangebracht." Gabriele Heinecke und ihre Kollegin Barbara Klawitter verziehen keine Miene.
Sekunden später ist es mit der fast andächtigen Ruhe im vollbesetzten Gerichtssaal vorbei. Kaum hat Wilcken den Freispruch für Eid verkündet, kommt es zu tumultartigen Szenen. Während Mitglieder und Sympathisanten des Lübecker Bündnisses gegen Rassismus sowie anderer linker Gruppen den Urteilsspruch mit Beifall quittieren, brechen Angehörige der Familie El Omari, die einen Sohn in den Flammen verloren haben und im Prozeß als Nebenkläger auftreten, in lautes Wehklagen aus. Auf arabisch und mit den Fingern immer wieder auf den ruhig dasitzenden Angeklagten Safwan Eid weisend, protestieren sie gegen den Freispruch. Wilcken geht energisch dazwischen: "Seien Sie ruhig, sonst müssen Sie gehen."
In der folgenden Urteilsbegründung wirft Wilcken zunächst Fragen auf. Wer, wenn nicht Safwan Eid, hat das Haus in der Hafenstraße angezündet? Und: Warum haben ein Großteil der Hausbewohner vor Gericht ihre bei der Polizei gemachten Aussagen meist zugunsten des Angeklagten geändert? Eine Antwort darauf gibt er nicht. Dies sei zwar unbefriedigend, aber man müsse damit leben.
Bei der Frage nach dem Ort des Brandausbruchs folgt die Kammer weitgehend der Argumentation der Experten von Landes- und Bundeskriminalamt. Danach ist das Feuer im Flur des ersten Obergeschosses entstanden. Gleichwohl habe es auch im Vorbau einen Primärbrand gegeben. Dabei deuteten die Einbrennungen ebenfalls auf den Einsatz eines Brandbeschleunigers wie etwa Benzin hin. Herabfallende Teile der Decke, die von der Staatsanwaltschaft für das Feuer im Vorbau verantwortlich gemacht wurden, hätten derartige Einbrennungen nicht verursachen können.
Offen bleibt in der Begründung, ob das Feuer im Vorbau gelegt und, wenn ja, wer es gelegt haben könnte. Ein Anschlag von außen scheidet jedoch offenbar aus. Das Gericht stellt fest, daß sowohl Fenster als auch Türen verschlossen gewesen seien. Das Rätsel lösen könnte der Hausbewohner Sylvio Amoussou. Doch der ist tot. Seine Leiche wurde im Vorbau geborgen, ohne Kohlenmonoxid in der Lunge, in untypischer Lage und mit unerklärlichen Drahtresten am Körper.
Den von der Verteidigung geforderten Freispruch für Eid ohne Wenn und Aber verkündet die Kammer nicht. Im Gegenteil, Wilcken listet eine Reihe von Auffälligkeiten auf, die das Gericht bei dem Angeklagten festgestellt habe: sein rastloses Verhalten nach dem Brand; statt sich um seine Angehörigen zu kümmern, habe er zunächst mit Freunden telefoniert und mehrfach ohne erkennbaren Grund den Bus verlassen. Auch habe er bei Freunden und nicht - wie alle anderen Hausbewohner - im Krankenhaus geduscht. Kurz nachdem erstmals Rauch durch das Asylbewerberheim zog, habe er einer Hausbewohnerin versichert, daß es sich nur um ein kleines Feuer handele. Woher er diese Erkenntnis hatte, konnte nicht geklärt werden.
Dem Rettungssanitäter und wichtigsten Zeugen der Anklage, Jens L., attestiert Wilcken Glaubwürdigkeit. Es habe weder Anhaltspunkte für eine falsche Aussage gegeben noch deute irgendetwas auf ein rechtes Umfeld des Mannes hin. L. hatte erklärt, Eid habe ihm in der Brandnacht gesagt, "wir warn's", und davon gesprochen, daß man Brandbeschleuniger an die Tür eines Familienvaters gekippt habe; dieser sei dann brennend die Treppe hinuntergelaufen.
Nach Auffassung der Kammer ist das Gehörte jedoch nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten in Deckung zu bringen. Das Feuer im ersten Obergeschoß sei nicht vor oder in der Nähe einer Tür ausgebrochen, ein Familienvater habe dort auch nicht gewohnt. Gleichwohl spreche nicht viel dafür, daß L. sich verhört habe. Möglich sei vielmehr, daß Eid von dem Feuer und seiner Entstehung Kenntnis erhalten, seinen Informanten aber nicht richtig verstanden habe.
Eid, mit schwarzer Hose, schwarzem Hemd und Weste bekleidet, verfolgt die Ausführungen des Richters ohne erkennbare Gemütsregung. So, wie fast immer während der 59 Prozeßtage.
[Lübeck - Hauptseite | Presse | Was gibt's Neues | Inhalt | Feedback ]