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Fri Sep  4 00:19:09 1998
 

Ausländer

Brandspuren im Gesicht

SPIEGEL-Redakteur Dietmar Pieper über die Ermittlungen zur Lübecker Asylheim-Katastrophe

Das Haus in der Lübecker Hafenstraße 52 ist ein Geisterhaus. Der Dachstuhl ist eingestürzt, die Fenster sind geborsten oder zerschlagen. Ringsum riegelt ein übermannshohes Metallgitter das Gebäude ab.

Zehn Menschen haben in diesem Haus den Tod gefunden. Am 18. Januar raste ein Feuer durch das einstige Seemannsheim, das seit 1985 als Asylunterkunft diente. Entzündet hat es ein Brandstifter, sagen die Gutachter.

Doch damit ist die Katastrophe, die weit über Deutschland hinaus viele Menschen schockiert hat, nicht aufgeklärt. Wie Schichten von Schutt lasten Zweifel auf allen Versuchen, die entscheidenden Fragen zu klären: Kam der Anschlag von innen, von einem oder mehreren Bewohnern? Oder waren die Flammen das Werk unentdeckter Täter, die von außen eindrangen? Was geschah wirklich in jener Nacht?

Die Polizei hat Dutzende von Zeugen befragt, viele davon mehrfach: Hausbewohner, Feuerwehrleute, Helfer, Gaffer. Keiner hat den Brandstifter gesehen - oder keiner sagt etwas. Nur einer, ein Rettungssanitäter, will in der Brandnacht einige fürchterliche Sätze gehört haben: ein Geständnis von Safwan Eid.

Die Staatsanwaltschaft, die zunächst vier junge Männer aus Mecklenburg festnahm und am Tag nach dem Brand wieder freiließ, hält den libanesischen Hausbewohner Eid für einen der Täter. Die Beamten vermuten Mittäter, doch bisher fanden sie keine. Die Anklage gegen Eid soll auf schwere Brandstiftung lauten und in Kürze auf über hundert Seiten vorliegen. Vom Mordvorwurf sind die Ermittler abgerückt, weil ihnen das Motiv fehlt. Die Verhandlung soll am Jugendgericht stattfinden - Eid ist offenbar erst 20 Jahre alt und nicht 21 Jahre, wie seine Einreisepapiere angeben.

Zwar weiß Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz, daß er in einer "schwierigen Beweislage" steckt. Aber was, fragt er, soll er machen? Soll er die für Eid belastenden Momente ignorieren und den jungen Libanesen laufenlassen - wie zuvor die Mecklenburger? Davor scheut Schultz zurück. Er hofft, daß der Fall vor Gericht klarer wird, daß vielleicht ein entscheidender Zeuge aussagt oder gar ein Geständnis kommt.

Die meisten Ereignisse der Katastrophennacht sind jetzt zwar rekonstruierbar. Doch wenn Eid das Haus angezündet haben sollte, gibt es dafür bisher keine ausreichenden Beweise. Was die Ermittler haben, sind viele Fakten, aber noch mehr Rätsel.

Eid, seine Eltern und sechs seiner Geschwister sind 1990 mit Hilfe von Schleppern nach Deutschland gekommen. Ihren Asylantrag lehnen die Behörden ab. Die Eids werden fortan in Deutschland geduldet, mehr nicht.

Aus der Hafenstraße 52 möchte die Familie, die dort auf 71 Quadratmetern im ersten Stock und im Dachgeschoß lebt, so bald wie möglich ausziehen. Im Sommer 1995 finden die Eids eine Wohnung, die sie selbst finanzieren wollen. Doch das Sozialamt stört sich am prekären Aufenthaltsstatus der Familie und verweigert die nötigen Garantien für Kaution und Maklercourtage. Die Familie klagt deshalb gegen die Stadt Lübeck, das Verfahren ist am Tag der Feuersbrunst noch anhängig.

Die Eids haben weiteren Ärger. Weil die Behörden vermuten, daß die Familie öffentliche Gelder einstreicht und gleichzeitig, etwa mit Autohandel, schwarz dazuverdient, stellen sie Strafanzeige wegen Verdachts auf Sozialhilfebetrug. Dieses Verfahren läuft noch.

Am Abend des 17. Januar macht es sich Safwan zusammen mit seinem libanesischen Freund Bassam Trad, 32, sowie seinen Brüdern Ghasswan, 19, und Mohammed, 23, im Dachzimmer des Heims gemütlich. Sie spielen Karten, nebenher läuft der Fernseher. Den "Egyptian Satellite Channel" können sie per Schüssel empfangen.

Ab 21.20 Uhr läuft ein mörderisches Eifersuchtsdrama mit dem Titel "Verlorene Liebe". Der Film endet gegen 23 Uhr, danach verläßt Trad das Haus. Die Brüder Eid legen sich, sagen sie, schlafen, bis sie rund vier Stunden später angeblich durch Schreie geweckt werden.

Da steht das Heim schon in Flammen. Wenn Safwan Eid der Brandstifter ist, dann kann er nicht geschlafen haben. Aber was er getan haben könnte und was ihn dazu bringen sollte, davon haben die Lübecker Staatsanwälte keine klare Vorstellung. Sie wissen, daß es in der Hafenstraße 52 eine Menge Streit gab. Doch mit wem genau der von ihnen Beschuldigte Streit hatte, können sie nicht sagen.

Während die Eids nach eigenen Angaben zu Bett gehen, sind vier junge Männer im mecklenburgischen Grevesmühlen wach und voller Tatendrang: der arbeitslose Maurer Rene B., 26, der gelernte Schlosser Heiko P., 23, der Gelegenheitsarbeiter Dirk T., 22, und der vorbestrafte Arbeitslose Maik W., 18. Die vier wollen in Lübeck ein Auto knacken.

Gegen 0.30 Uhr am 18. Januar fahren sie in Rene B.s braunem Wartburg los. Unterwegs hören sie Musik der Hardrock-Band "Böhse Onkelz". Sie vereinbaren, daß Dirk T. den geklauten Wagen später zurückfahren soll, getrennt von den anderen. Treffen wollen sie sich beim ehemaligen Grenzübergang Schlutup.

In der Hafenstraße 52 sind auch noch einige Bewohner wach. Der Afrikaner Sylvio Amoussou, 27, aus Benin, ruft seine Lübecker Freundin an. Er will sie gleich noch besuchen, aber die Frau blockt ab.

Da Amoussou ein Nachtmensch ist, empfiehlt seine Freundin ihm, in die Disco "Body&Soul" zu gehen. Den Rat befolgt Amoussou offenbar nicht. Das Telefonat ist sein letztes Lebenszeichen.

Der Wartburg aus Grevesmühlen fällt gegen 1.25 Uhr bei Schlutup einem Taxifahrer auf. Der Mann hat den Eindruck, daß die Besatzung nicht recht weiß, wo sie hinwill, verliert dann aber das Fahrzeug aus den Augen.

Dirigiert von dem ortskundigen Heiko P. als Beifahrer, steuern die Grevesmühlener in Lübeck das Einkaufszentrum Buntekuh an. In der Nähe brechen sie zwei Tiefgaragen auf, nehmen aber nichts mit. In der Karavellenstraße entdecken sie schließlich einen schwarzen Golf GTI, Baujahr 1982, und schließen den Wagen kurz.

Dirk T. fährt los, doch nach ein paar hundert Metern stirbt der Motor ab. Heiko P. und Maik W. machen den Wagen wieder flott. Heiko P. schärft Dirk T. noch einmal die Route zum Treffpunkt in Schlutup ein. Der aber verfährt sich nach eigenen Angaben trotzdem und lenkt den geklauten Golf direkt nach Grevesmühlen. Unterwegs passiert er die Hafenstraße 52. Daß dort ein Asylbewerberheim steht, sagt Dirk T., habe er nicht gewußt.

Nicht weit vom Heim, im Haus An der Untertrave 63, macht ein schlafloser Bewohner gegen 1.45 Uhr eine seltsame Beobachtung. Beim Blick aus seinem Wohnzimmerfenster sieht er einen jungen, blonden Mann mit kurzen Haaren, der einen Rucksack trägt und etwas sucht. An einem Baum hebt der Rucksackträger schließlich ein Beil auf und schwingt es über seinem Kopf - offenbar, um anderen ein Zeichen zu geben. Dann verschwindet er im Dunkeln.

Der Mann mit dem Beil ist bis heute unbekannt. Die Beschreibung, die der Schlaflose von dem Rucksackträger gibt, paßt aber auf Maik W. Doch W. und seine Kumpane sind zu dieser Zeit damit beschäftigt, so sagen sie, den Golf zu stehlen.

Der zweitaktende Wartburg mit den drei verbliebenen Autodieben zieht einige Zeit später seine bläuliche Abgasfahne durch Lübeck, was einem Taxifahrer unangenehm auffällt. Gegen 2.45 Uhr wartet der Trupp in Schlutup auf den vierten Mann, der aber nicht auftaucht. Die drei fahren zurück nach Lübeck, um Dirk T. zu suchen.

Dort sind drei Rangierer der Bahn seit fünf Stunden mit dem Verschieben von Waggons im Hafen beschäftigt. Ihre Trasse führt direkt vor dem Asylbewerberheim entlang, in dem im Lauf der nächsten 45 Minuten das Inferno beginnt.

Um kurz nach 3 Uhr fällt den Nachtarbeitern in der Nähe des Heims eine Gestalt auf, die ihnen in unterschiedlicher Weise im Gedächtnis bleibt: Zwei der Rangierer sehen einen Fußgänger. Einer nimmt ihn als Radfahrer wahr, und zwar glaubt er, einen Afrikaner vor sich zu haben. Das wiederum bestätigt nur einer seiner Kollegen, der andere merkt sich das Bild eines schwarzhaarigen Weißen.

Wer dieser Mann ist und was er mitten in der Nacht bei der Asylunterkunft macht, ist bis heute nicht aufgeklärt. Die Rangierer stellen an ihm kein auffälliges Benehmen fest.

Die drei Grevesmühlener füllen gegen 3.15 Uhr an der Shell-Tankstelle Padelügger Weg fünf Liter Gemisch in ihren Wartburg. Der Kassenbeleg über elf Mark zeigt die Zeit 3.19 Uhr an. Beim Tanken werden sie von zwei Polizisten beobachtet, die Streife fahren.

Die Beamten setzen ihre Routinetour fort, während die drei Grevesmühlener am Bahnhof nach Dirk T. Ausschau halten. Möglicherweise, denken sie, ist der geklaute Golf schon wieder liegengeblieben, und ihr Mitstreiter will mit dem Zug nach Hause fahren.

Um 3.37 Uhr tuckert einer der Rangierer im Schrittempo rückwärts an der Hafenstraße 52 vorbei. Der Fahrtenschreiber der Lokomotive hält die Uhrzeit genau fest. Der Mann im Führerstand sieht weder Rauch noch Flammen, noch Menschen auf der Straße.

Doch: In diesen Minuten nimmt im Inneren des Hauses die Tragödie ihren Lauf. Irgendwo flammt ein Streichholz oder ein Feuerzeug auf. Irgend jemand hält es an ein leicht brennbares Material, Benzin zum Beispiel oder Ofenanzünder. Ein Teppich schmort. Ein Holzspan glimmt. Ein Kabel fängt Feuer. Menschen erwachen in Panik, husten, schreien, rennen.

Dieses Rätsel ist bis heute nicht gelöst. Wo bricht das Feuer aus? Im ersten Stock, was die Gutachter der Staatsanwaltschaft für sicher halten? Oder im hölzernen Vorbau, was Eids Verteidiger und der von ihnen beauftragte Brandexperte Ernst Achilles wahrscheinlicher finden? Die meisten Zeugen bemerken die Flammen zuerst im ersten Stock. Manchen aber prägt sich vor allem das Bild des brennenden Vorbaus ein.

Unklar ist auch, wie schnell das Feuer auflodert. Achilles ebenso wie die Gutachter der Staatsanwaltschaft halten einen Schwelbrand für möglich, der erst durch Frischluft angefacht wird - vielleicht, weil irgendwo jemand eine Tür oder ein Fenster öffnet.

Um 3.40 Uhr fährt die Putzfrau Bärbel D. auf dem Weg zu einer Arbeitskollegin die Hafenstraße entlang. Am Haus Nummer 52 im ersten Stock sieht sie, wie sie es ausdrückt, auf einem Fenstersims "einen Neger stehen". Der Mann trägt nur Unterwäsche.

Bärbel D. bemerkt weder Rauch noch Flammen. Sie nimmt an, daß der Mann in der Unterwäsche vielleicht seine Satellitenschüssel einstellen oder sich das Leben nehmen will. Beides beeindruckt sie nicht genug, um anzuhalten. Die erste Zeugin, die das Haus von außen sieht, während es innen brennt, fährt vorbei.

Jetzt erfaßt das Feuer den Altbau aus dem vorigen Jahrhundert in rasendem Tempo. Rauch wälzt sich durch die Flure, Fenster und Türen werden aufgerissen, die Flammen fressen sich nach oben.

Zehn Sekunden nach 3.41 Uhr geht der erste Notruf bei der Polizei ein: "Hallo, Notfall hier bei Hafenstraße 52! Feuer!" Am Apparat ist Achmed Eid, 16, der ein im Treppenhaus installiertes Münztelefon benutzt.

Auf dem Dach steht die Angolanerin Monica Bunga, 27. Der Rauch und die aufsteigende Hitze rauben ihr die Sinne. Im Arm hält sie ihre siebenjährige Tochter Suzanna. Sie springt - in den Tod. Ihr Mann Joao, 31, vom Schmerz fast betäubt, balanciert mit zwei weiteren Töchtern an der Dachkante entlang. Dorthin, wo eine Drehleiter der Feuerwehr in Stellung geht, wo Menschen stehen, schreien, winken - darunter die Brüder Safwan, Ghasswan und Mohammed Eid.

Das erste Kind von den Leuten auf dem Dach nimmt Feuerwehrmann Harri Wreth, 30, entgegen. Plötzlich verliert er den Halt. Unter seinen Füßen kippt die Leiter weg, schrammt zur Seite, knallt auf den Vorbau. Wreth und das Kind bleiben unverletzt. Eine andere Leiter wird ans Dach gehievt. Wreth steigt noch zweimal hinauf, rettet ein Baby und einen Jugendlichen. Die übrigen Brandopfer klettern ohne seine Hilfe hinunter. Als letzter kommt Safwan Eid, der sich die Ohren versengt hat.

Ein Stockwerk tiefer wird die Wohnung einer Familie aus Zaire zur Todesfalle. Francoise Makudila, 32, ihre drei Kinder und ihre beiden Schwestern ersticken und verschmoren in den Flammen. Ihr Ehemann Jean-Daniel, 43, der sich in Aachen aufhielt, stürzt, als er zurückkehrt, ins Nichts.

In der Nachbarwohnung kommt der Libanese Rabia el-Omari ums Leben. Seine Angehörigen können sich retten.

Um 3.47 Uhr fallen einem Polizisten in der Nähe des Infernos drei junge Männer auf. Sie gruppieren sich um einen braunen Wartburg und beobachten das Drama aus sicherer Distanz.

Routinemäßig nimmt der Beamte die Personalien von Rene B., Heiko P. und Maik W. auf. W. zeigt keine Papiere und nennt sich Maik Müller. Kurz darauf fahren die Autoknacker heim.

Inzwischen schlagen aus den Fenstern im ersten Stock Richtung Hafenstraße hohe Flammen. In diesem Trakt des Hauses halten sich in der Nacht elf Afrikaner auf - Männer, Frauen und Kinder, Bewohner und Besucher.

Am heftigsten wütet der Brand im Flur neben dem Zimmer von Ottodzo Dope Agonglovi, 37, genannt Marie. Hat Safwan Eid an dieser Stelle das Feuer gelegt, wie die Ermittler glauben? Daß die Flammen durch Hohlräume im Fußboden hierher gekrochen sein könnten, was die Verteidigung für möglich hält, schließen die Gutachter der Staatsanwaltschaft aus.

Die Aussagen der Bewohner dieses Trakts helfen kaum weiter. Alle, auf die es ankommen könnte, widersprechen sich - teilweise fundamental.

Marie Agonglovi sagt der Polizei, sie habe beim Blick in den Flur keinen Rauch gesehen, nur Feuer. Dann habe sie sogleich die Tür geschlossen. Bei einer öffentlichen Kundgebung erzählt sie dagegen, im Flur nur Rauch, aber kein Feuer bemerkt zu haben.

Agonglovis Bruder Gustave Sossou, 31, behauptet, er habe die beiden Kinder der mehrere Zimmer weiter lebenden Kate Davidson, 22, gerettet. Davidson sagt, davon wisse sie nichts. Einer, der vielleicht etwas Entscheidendes gewußt hat, ist tot. Während der Brand noch wütet, liegt die Leiche Sylvio Amoussous bäuchlings im Vorbau auf dem Boden. Auf den verkohlenden Körper des Mannes, der diese Nacht gern bei seiner Freundin verbracht hätte, fallen Asche, Schutt und ein Stück blanker Draht.

Amoussous Bleibe liegt im ersten Stock, im hintersten Zimmer. Wann und wie ist Amoussou in den Vorbau gelangt? Wollte er vor den Flammen ins Freie flüchten und blieb an der verschlossenen Haustür stecken - oder war er vielleicht schon tot, als das Feuer ausbrach?

Der von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachter Manfred Oehmichen, Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Lübeck, kann den Grund für Amoussous Tod nicht finden.

Rauchgas und Rußpartikel, wie sie bei offenem Feuer entstehen, hat Amoussou nicht mehr eingeatmet. Ebensowenig zeigt sein Körper Spuren von Gewalt. Bleibt die Annahme, Amoussou sei an akutem Sauerstoffmangel in der Nähe gewaltig auflodernder Flammen oder an einem Schock gestorben. Aber was könnte diese Flammen verursacht haben oder einen Schock, der einen jungen Mann tötet?

Vielleicht, vermutet die Verteidigung, trifft der Nachtmensch auf einen Angreifer von außen. Muß er sterben, weil er am Hauseingang nach dem Rechten sehen will?

Solche Spekulationen werden vor allem von den Worten eines Mannes genährt - von der Aussage Marwan Eids. Kurz vor 4 Uhr springt Safwans Vater aus dem ersten Stock. Beim Aufprall staucht er sich die Knöchel. Helfern erzählt er, vor dem Brand habe er die Gartentür quietschen gehört. Dann habe es eine Explosion gegeben - ein Brandanschlag, ganz sicher.

Niemand sonst im Haus hat eine Explosion wahrgenommen. Will Marwan seinen Sohn Safwan durch seine Darstellung von Anfang an decken?

Um 4.22 Uhr schrillt bei einem 25jährigen Rettungssanitäter der Cityruf. Der Mann vom Deutschen Roten Kreuz schreckt hoch, zieht sich an, stürzt los. Am Brandhaus soll er sich um Leichtverletzte kümmern. In einem Bus, der 17 Menschen ins Krankenhaus bringt, fährt er mit.

Auf der letzten Bank sitzt ein junger Mann, der dem Sanitäter auffällig still vorkommt - Safwan Eid. Ob alles okay ist, will der Helfer wissen. Und als Antwort versteht er: "Wir warn's."

Auf seine Ermahnung hin, daß ihn diese Worte "Kopf und Kragen kosten" können, legt Eid ein präzises Geständnis ab - zumindest nach dem, was der Sanitäter hört und später wiedergibt. Darin ist von Streit die Rede, von Rache und von Benzin: "Das Zeug lief brennend die Treppe hinunter. Mit einemmal stand die Treppe in Flammen."

Bis heute bestreitet Eid, daß ihm so etwas jemals über die Lippen gekommen ist. "Die warn's" habe er gesagt, nämlich die Ausländerhasser, die Nazis. Aussage steht gegen Aussage.

Gegen 6 Uhr erteilt die Lübecker Polizeiführung den Auftrag, die drei Männer aus dem braunen Wartburg als Zeugen zu verhören. Beamte treffen Rene B., als er an dem Wagen gerade den Vergaser repariert. Heiko P. versteckt sich auf einem Heuboden. Der angebliche Müller entpuppt sich als Maik W., gegen den ein Haftbefehl wegen Körperverletzung vorliegt.

Vernommen werden die drei nicht mehr als Zeugen, sondern als Beschuldigte. Heiko P. packt sofort aus - über den Autoklau. Rene B. beteuert, er habe nichts "gegen Juden, Neger, Ausländer oder auch Wessis".

Um 7.20 Uhr erstattet der Eigentümer des geklauten Golf GTI Anzeige. Eine Stunde später findet die Grevesmühlener Polizei den demolierten Wagen in einem Waldstück.

Um 19.45 Uhr, während in Lübeck und anderswo Trauer- und Solidarkundgebungen stattfinden, vernimmt die Polizei einen Bekannten von Maik W. Der berichtet von W.s rechtsextremistischen Umtrieben und daß er sich "Klein Adolf" nennen lasse. Außerdem habe W. kürzlich erzählt, er habe in Lübeck "etwas angesteckt" oder wolle das demnächst tun.

Kurz darauf werden die drei Verdächtigen in Lübeck ein zweites Mal vernommen. Maik W. räumt ein, eine rechte Gesinnung gehabt zu haben. Das sei aber vorbei.

Frische Versengungen, die ein Gerichtsmediziner an seinen Gesichtshaaren feststellt, erklärt Maik W. mit einer ungewöhnlichen Geschichte. Er habe vor vier Tagen versucht, einen Hund zu ärgern, indem er dessen Fell mit Haarspray eingesprüht und dann angezündet habe. Dabei sei es "zu einer größeren Stichflamme" gekommen.

Sein Kumpel Rene B. hat sich ebenfalls Gesichtshaare angebrannt. Er will Tage zuvor im Dunkeln Sprit aus einem Mofa-Tank abgezapft haben. Um nachzuschauen, habe er sein Feuerzeug benutzt. Dadurch sei eine Stichflamme hochgezischt.

Um 22.20 Uhr nimmt die Polizei in Grevesmühlen den vierten Mann der Wartburg-Truppe fest. Dirk T. bestätigt die radikale Orientierung von Maik W. und gibt zu, daß er bis 1993 selbst rechts gedacht hat. Inzwischen sei er "neutral".

Merkwürdig, daß auch Dirk T. versengte Haare im Gesicht hat. Wie es dazu kam, kann er nicht erklären.

Um 23.32 Uhr geht im Lübecker Polizei-Hochhaus ein Fax des Polizeireviers Neustadt ein. Einer der beiden Beamten, die den Wartburg am gleichen Tag gegen 3.15 Uhr an der Shell-Tankstelle gesehen haben, teilt seine Beobachtungen mit. Für die Verdächtigen aus Grevesmühlen liefert dieses Schreiben das perfekte Alibi.

Am Morgen des 19. Januar spiegelt die Auslandspresse den Deutschen ein düsteres Bild zurück. Kommentatoren in London, Paris und Tel Aviv beschreiben Lübeck als "rassistischen Alptraum" (France-Soir).

Um 11.45 Uhr aber kommen die vier Beschuldigten auf freien Fuß. Das Verfahren geht wieder gegen Unbekannt.

Die gleichen Ermittler, die soeben noch rassistischen Tätern auf der Spur waren, geraten für manche Demonstranten nun in den ungeheuren Verdacht, selber Rassisten zu sein. Die gleichen Bürger, die sich soeben sorgten, daß aus ihrer Mitte heraus Ausländer ermordet werden, sorgen sich nun, daß mitten unter ihnen ein Ausländer zum Sündenbock gemacht werden könnte.

Um 17.20 Uhr erscheint der Rettungssanitäter bei der Polizei. Er gibt zu Protokoll, was er 34 Stunden zuvor von Safwan Eid gehört habe.

Um 21.10 Uhr wird Eid in der Wohnung seines Freundes Trad festgenommen. Er folgt den Beamten bereitwillig. Als die Vernehmer ihm jedoch ihren Vorwurf eröffnen, streitet er zunächst ab, überhaupt mit dem Sanitäter gesprochen zu haben.

Bei der Fortsetzung des Verhörs am folgenden Tag schildert Eid seine Version des Gesprächs mit dem Rettungssanitäter. Um 14.40 Uhr arrangieren die Ermittler eine zweite, stumme Begegnung: Bei einer Gegenüberstellung identifiziert der Helfer zweifelsfrei den Mann von der letzten Bank, der ihm die Tat gebeichtet habe.

Kurz darauf befragt der Lübecker Amtsrichter Franz Böcher den Beschuldigten. Anschließend unterzeichnet Böcher den Haftbefehl. Seither sitzt Eid im Gefängnis.

Sollte der Mann in einem Prozeß freigesprochen werden, beteuert sein Ankläger Schultz, wäre das "für uns keine Niederlage".

DER SPIEGEL 23/1996 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags


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