LÜBECK II Der
49jährige Jean-Claude Makodila, der bei dem
Brandanschlag seine
ganze Familie verlor, überlebte nur durch einen
Zufall. Zuvor hatte er vergebens versucht, aus
dem Wohnheim auszuziehen DEUTSCHLAND
Wer hat die Kraft, das Unfassbare mitzuteilen?
Was sagt man einem Mann, der seine ganze Familie
verloren hat?
Seit drei Stunden frieren zehn Männer aus
Zaire in der Lübecker Bahnhofshalle.
Sie warten auf ihren Freund Jean-Claude Makodila.
Am Telefon haben sie ihm gesagt. er solle sofort
nach Hause kommen: Seine Frau ist tot. Als der
Zug um 1.2t Uhr einrollt weiß Makodila noch
nicht, daß auch seine fünf Kinder verbrannt
sind. » Wo sind meine Kinder?« will der
43jährige auf dem Bahnsteig wissen. Seine
Freunde pressen die Lippen zusammen, starren auf
den Boden. Als er im Flüchtlingsheim an der
Rabenstraße die Wahrheit erfährt, knicken dem
kräftigen Mann die Beine weg.
Vor sechsJahren kam Jean-Claude Makodila aus
Zaire nach Deutschland, weil er Schutz vor dem
Terror-Regime des Diktators Mobutu suchte. In der
Hauptstadt Kinshasa hatte seine Familie eine
schöne Wohnung undjeden Tag ein warmes Essen auf
dem Tisch. » Jetzt habe ich weniger als
nichts«, wimmert Makodila. » Nur der
Trainingsanzug, den ich trage, ist mir
geblieben.«
Eine Reise hat Makodila das Leben gerettet. Am
Tag vor der Lübecker Feuernacht ist er nach
Aachen gefahren, hat dort eine Rede für die
Christlich Demokratische und Soziale Partei
Zaires gehalten und um eine Tote getrauert: Vor
Wochen war ein Verwandter verunglückt, als eine
Transportmaschine auf einen Markt in Kinshasa
stürzte. Eine Beruhigungsspritze hat er bekommen
und einen Becher mit Milch und Valium.
Doch Makodila schläft nicht ein, windet sich
aufdem Sofa. Sein Körper bebt, das Gesicht ist
verzerrt. Makodilas Schreie sind noch auf der
Straße zu hören: »Mama-Mami!« bricht es aus
ihm heraus. Draußen vor der Tür toben die
Kinder anderer Flüchtlingsfamilien, Mütter
wiegen ihre Babys im Arm. Ein Mann aus Angola
sitzt aufeinem Stuhl undschaut in eine Kamera.
Seine siebenjährige Tochter ist in den Flammen
gestorben, auch seine Frau ist tot: Sie ist aus
dem zweiten Stock gesprungen und mit dem Kopf auf
den Boden
geschlagen. » Können Sie mir auf Deutsch sagen,
wie es Ihnen jetzt geht?« fragt der Reporter vom
NDR. » Kannst du fühlen, was es bedeutet. Frau
und Itind verloren?« fragt ihn der Übersetzer.
» Er ist illegal hier«, stellt der Reporter
fest. Jean-Claude Makodila ist auf dem Sofa
zusammengesunken und knetet ein Frotteehandtuch;
eine Frau wischt ihm die Tränen aus dem Gesicht.
Zwei Freunde sitzen neben ihm, schweigen, schauen
auf den Schneemann aus Papier, der am
Fensterklebt, und auf den Autltleber am
Kühlschrank: »See me - hear me - touch me«
steht da auf einer Deutschland-Karte in
Schwarzrotgold.
Seit einem Jahr wollte Makodila fort aus seiner
Unterkunft an der Lübecker Hafenstraße 52 -
raus aus der Bleibe zwischen Holzstapeln,
Frachtern, Speditionen und Spielhalle: zwei
winzige Zimmer im zweiten Stock, eines für seine
Kinder, eines für seine Frau Francoise, 32, und
ihn. Wieder und wieder hat er mit dem Ordnungsamt
gesprochen. DerArzt seiner Kinder hat geschrieben
und sein Anwalt. » Aber die Leute haben nein
gesagt«, flüstert Makodila. Es kam zum Prozeß,
der Afrikaner verlor. » Der Herr vom Ordnungsamt
hat Schuld« schreit Makodila auf. » Nur die
Deutschen entscheiden, wie wir Ausländer hier
leben.« Das Feuer in der Hafenstraße hat im
zweiten Stock nur verkohlte Leichen
zurückgelassen. In Kinshasa war Makodila
Buchhalter, in Lübeck hat er erst nach vier
Jahren die Erlaubnis bekommen zu arbeiten, immer
wieder ist er zum Arbeitsamt gegangen; auch dort
haben sie ncin gesagt. Seit kurzem durfte
Makodila Schränke vom Möbellager in deutsche
Stuben fahren.
Seine Heimat hat er seit seiner Flucht nicht mehr
gesehen. Seine Söhne 1.egrand, 5, und Jeada, 3
kamen in Lübeck zur Welt, sprachen besser
Deutsch als Lingala. SeineTochter Christelle hat
zwei Tage, bevor sie starb, ihren achten
Geburtstag gefeiert und endlich einen Gameboy
bekommen; Miya, 14, besuchte mit Kindern aus 17
Ländern die Francke-Schule. und Christine, 16,
hatte gerade einen Sprachkurs begonnen. » Meine
Frau und ich hatten eine perfekte Ehe«,
schluchzt Makodila. Sonntags sind sie mit den
Kindern an den Ostseestrand gefahren. Oder sie
haben Hamburger bei McDonalds gegessen, in der
evangelischen St. Gertrud-Kirche gebetet.
Im Keller des Flüchtlingshauses an der
Rabenstraße haben sie sich jetzt versammelt:
Afrikaner aus Lübeck, Hannover und Büsum.
Makodilas Schwager ist aus der Schweiz gekommen.
Zwei Lübecker Frauen haben Brötchen mit
Mettwurst Emmentaler und Hähnchensalat gebracht.
An die zwanzig Afrikanerinnen kauern auf Matten,
sie heulen, sie schreien, sie klagen; ihre Kinder
kurven um sie herum. » Warum war Jean-Claude
nicht im Haus?« jammert eine Frau, »er hätte
die Tür auftreten können.«
Der Tod seiner Familie öffnet Makodila Türen,
die ihm bislang verschlossen waren. Freunde
schleppen ihn mittags um zwölf ins Lübecker
Rathaus - der Bürgermeister, Michael Bouteiller
erwartet ihn. Makodilas Flehen durchdringt die
Fußgängerzone vor dem Ratskeller - Passanten
bleiben unangenehm berührt stehen. Makodila
hört nicht, was Herr Bouteiller am Mikrofon sagt
- seine Freunde brauchen ihre ganze Kraft ihn auf
de,cm Stuhl zu halten. Vor seiner Reise nach
Aachen hat Makodilas Frau gesagt: »Du mußt
immeran Gott glauben!« Nach 40 Tagen ist die
Trauerzeit vorbei. Dann wird ihm ein Witwer nach
alter Bantu-Tradition ein Stück Seife geben und
sagen: »Geh dich waschen!« So soll das Unglück
fortfließen von Jean-Claude Makodila.
ANDREAS SCHMIDT
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