Er kam, um zu helfen.
Als am 18. Januar 1996 das Asylbewerberheim in
Lübeck brannte, war JENS LEONHARDT als
DRK-Sanitäter vor Ort. Er hörte, wie der junge
Libanese Safwan Eid sagte: 'Wir warn's.' STERN-Autor
Peter Sandmeyer beschreibt, wie aus dem
wichtigsten Zeugen im Brandstifter-Prozeß ein
Verfolgter wurde
Er will nicht. Will nicht mehr befragt,
angestarrt, fotografiert, ausgespäht,
verdächtigt, denunziert werden. Will nur noch
das, woraus andere mit aller Kraft zu ent-kommen
versuchen: die banale, aschgraue, herrliche
Anonymität. Ein Treffen mit einem Journalisten?
Nein, danke. Als es schließlich doch zustande
kommt, erscheint er eine halbe Stunde vor der
Zeit und sichert: Hat sich irgendwo ein Fotograf
versteckt? Kommt der Gesprächspartner allein?
Die Begegnung mit einem Verfolgten.
Verfolgt wird er von einer ungeliebten Rolle. Er
ist der wichtigste Zeuge im Prozeß um den
Brandanschlag in der Lübekker Hafenstraße. Der
'Hauptbelastungszeuge' hieß es stereotyp in den
Nachrichten. Manchmal auch der 'Kronzeuge'.
Jens Leonhardt hat nämlich in der Brandnacht ein
Geständnis des jungen Libanesen Safwan Eid
gehört ('Wir warn's'), der daraufhin der
schweren Brandstiftung angeklagt wurde und seit
September 1996 vor der II. Großen Strafkammer
des Lübecker Landgerichts steht. Und schweigt.
Unterstützt vom vielsprachigen Schweigen der
anderen Hausbewohner, die immer, wenn es eng
werden könnte für den Angeklagten, belastende
alte Aussagen relativieren.
Deswegen ist auch nach sechs Monaten
Verhandlungsdauer und einem lindwurmartigen
Aufmarsch von Zeugen und Sachverständigen
Leonhardts Aussage noch immer das, was den
Angeklagten am stärksten belastet. Die Anklage
steht oder fällt mit ihm und seiner
Glaubwürdigkeit.
Er ist die Schlüsselfigur. Der Zeuge. Belastet
ihn das? 'Und ob', sagt er. Es sei ja keine
Kleinigkeit, wenn ein Mensch seinetwegen ins
Gefängnis müsse. Und ganz unerträglich ist ihm
die Vorstellung, daß der Angeklagte womöglich
als einziger verurteilt wird. 'Er hat doch 'wir'
gesagt, 'wir warn's'.' Dann beißt er sich schon
wieder auf die Lippen. Hat er versehentlich
vielleicht etwas gesagt, was man ihm im Munde
umdrehen könnte? Gegen ihn oder dazu verwenden
könnte, ihn zum zweitenmal vorzuladen?
Er verflucht die Journalisten. All dieser Unsinn,
der schon über ihn geschrieben wurde! Daß er
ein Einzelgänger sei, zurückgezogen lebe, die
Lehre abgebrochen, ein schlechtes Verhältnis zu
seinem Job und ein miserables zu seinem Boß
habe. 'Alles Quatsch.' Seine Lehre als Dreher
habe er erfolgreich abgeschlossen ('Theorie:
eins, Praxis: zwei'), seinen Chef schätze er so
wie der ihn, und was für ein einzelgängerischer
Mensch er sei, darüber müßte 'Oma' mal
Auskunft geben! 'Oma' war ursprünglich nichts
weiter als die Vermieterin des Zimmers, das er
bezog, als er Anfang 1990 von Eisenhüttenstadt
nach Lübeck übersiedelte. Man hatte ihn gewarnt
vor 'dem Westen'. Doch er sagte sich: 'Du hast
einen klaren Kopf, du hast zwei gesunde Hände,
du schaffst es.' Seine Vermieterin war damals 75
und gebrechlich. Mal mußte der Blutdruck
kontrolliert, mal eine Besorgung erledigt, mal
die richtige Pillen-Dosis abgezählt werden. Jens
Leonhardt war 20 und hatte, wie er selbst
einräumt, eine Art Helfersyndrom.
So fanden sie sich. Bis heute lebt er im Haus der
kränklichen, aber resoluten alten Dame, nennt
sie Oma und sitzt oft bei einer Flasche Wein mit
ihr zusammen und läßt sich von früher
erzählen. Dem Wein spricht er allerdings mäßig
zu, denn stets eingeschaltet ist sein
Alarm-Pieper vom Deutschen Roten Kreuz; allzeit
bereit zum Rettungseinsatz ist er selbst.
'Darüber ist auch Unsinn berichtet worden.' Daß
er nämlich nur Sanitäter geworden sei, weil er
Anschluß gesucht habe. 'Wirke ich
kontaktgestört?' Der 26jährige mit der
Konfektionsgröße von Ulrich Wickert beide
trennt ein Zentimeter lacht. Die Versorgung
Hilfsbedürftiger sei eine alte Passion von ihm.
Schon in der DDR wollte er Krankenpfleger werden,
durfte aber nicht wegen fehlenden Wehrdienstes.
Der ehrenamtliche DRK-Sanitäter schiebt meistens
Dienst bei Fußballspielen, Pop-Konzerten und den
in Lübeck eher seltenen Demos. Doch ein halbes
dutzendmal pro Jahr gibt der Pieper auch
spontanen Alarm. So in der Nacht zum 18. Januar
1996.
Die Brandnacht liegt heute hinter ihm. Ein
abgeschlossenes Kapitel, ohne nachwirkende
Angstträume. Bilder aus der Nacht haften noch in
seinem Kopf, wie die Einstellungen eines
besonders eindringlichen Films; doch der
Schrekken eines Infernos, das zehn Menschen nicht
überlebten, hinterließ den Helfer Leonhardt
unversehrt. Warum aber die plötzlichen Tränen,
als er am anderen Morgen müde und verdreckt in
seinem engen Badezimmer stand und sich im Spiegel
sah (ein Detail, das ihm von der Verteidigung die
süffisante Frage eintrug, weshalb er sich zum
Weinen extra vor den Spiegel stelle)? 'Weil ich
mich so ohnmächtig gefühlt habe und so Wut
gehabt habe, weil ich nicht helfen konnte. Weil
ich keinem etwas wiedergeben konnte von dem, was
er verloren hatte. Weil ich wie ein klägliches
kleines Würstchen dastand.' Schlüsselsätze.
Hilfloser Helfer zu sein, das ist ein Horror für
ihn. 'Ich bin Sternzeichen Jungfrau', sagt er,
'die sind alle so: pflichtbewußt, korrekt und
total perfektionistisch.' Manchmal nervt ihn
seine Übergenauigkeit selbst. 'Ich war mal mit
einer Freundin zusammen, die auch Sternzeichen
Jungfrau war. Eine Katastrophe.' Ein Helfer mit
Drang zur Mustergültigkeit.
Deswegen fühlte er sich mehr als unwohl, eher
wie falsch besetzt, als ihn der junge Mann mit
den angesengten Ohren, der allein auf der letzten
Bank im Bus der Leichtverletzten saß, plötzlich
mit seinem Geständnis überfallen habe.
Leonhardt versuchte noch, ihn zu beschwichtigen
'So was sagt man doch nicht! Das kann einen doch
Kopf und Kragen kosten!' doch vergebens. Safwan
Eid habe ihm die 'ganze Geschichte' erzählt: vom
Streit mit einem Familienvater, den sie gehabt,
und dem Benzin, das sie dann an die Tür gekippt
hätten. Mißverständnisse schließt Leonhardt
aus. Wieder und wieder seien ihm die Worte des
Libanesen durch den Kopf gegangen und hätten
sich in seinem Gedächtnis festgesetzt wie mit
Widerhaken. Er habe zwar Anstrengungen
unternommen, das Gehörte wieder rauszubekommen
aus seinem Kopf, aber ohne Erfolg. 'Kümmere dich
nicht darum', habe er sich selbst zur Ordnung
gerufen. 'Du mußt seine Ohren versorgen! Dich um
die anderen Businsassen kümmern!' Vergessen aber
habe er keine Silbe.
Zum Glück wurden dann ja sehr schnell die vier
jungen Männer aus Grevesmühlen als mutmaßliche
Brandstifter festgenommen. Doch als er am
nächsten Tag im Autoradio hörte, daß die vier
ein Alibi gehabt hätten und wieder frei seien,
da begann das Riesenrad in seinem Kopf erneut zu
rotieren. Oma merkte als erste, daß etwas mit
ihm nicht stimmte. Sie rechneten gerade den
Einkauf ab. 'Junge, was ist los? Du bist ja gar
nicht bei der Sache!' Schließlich rückte er mit
der Sprache heraus. 'Dann mußt du zur Polizei',
entschied Oma. Aber er war doch als Helfer
ausgebildet und alarmiert worden, um Menschen in
Not beizustehen. Und jetzt sollte er jemanden,
der Beistand bei ihm gesucht hatte, in die Klemme
bringen? War er nicht moralisch zum Schweigen
verpflichtet, wie ein Arzt oder Pfarrer? 'Und
wenn jemand anderes verurteilt wird?' fragte Oma.
'Na, da saß ich nun.' Das Riesenrad rotierte
weiter. Auch sein Freund Mathias,
Rettungssanitäter wie er, konnte es nicht
stoppen. Jens fragte ihn um Rat und bekam die
Antwort: 'Das mußt du entscheiden.'
Schließlich entschied er sich für eine Aussage
bei der Kripo. Er glaubte, das könne er
sozusagen im Vorübergehen machen und hinterher
noch zu der Marionettentheater-Vorstellung, zu
der die DRK-Gruppe an diesem Abend verabredet
war. Doch die anderen saßen lange im Theater,
als er endlich aus dem Polizeipräsidium kam und
mit weichen Knien nach Hause fuhr. 'Ich kam mir
richtig schlecht vor. Wie eine Petze. "Herr
Lehrer, ich weiß, wer die Kreide naß gemacht
hat".' Er stockt, trinkt einen Schluck
Alsterwasser. 'Na, und dann ging die ganze
Geschichte los.' Die Polizisten hatten ihn
gewarnt. Bei einem Zeugen seiner Wichtigkeit
müsse der Leumund überprüft werden.
Polizeibeamte erschienen bei seinem Chef, beim
Roten Kreuz, bei Freunden, sogar bei Oma. Alles
wollten sie wissen, ob er trinkt, angibt,
politisiert, pünktlich sei oder unzuverlässig.
Darauf war er gefaßt. Nicht darauf, welcher
Mega-Star er über Nacht für die Medien wurde.
Journalisten lauerten vor dem Großmarkt, wo er
arbeitet, kletterten über Omas Gartenzaun,
verfolgten ihn im Auto, terrorisierten ihn mit
Anrufen. 'Da waren welche dabei, die noch bevor
sie ihren Namen sagten die Summe in den Hörer
brüllten "10000 Mark, Herr Leonhardt, wenn
Sie exklusiv mit uns reden!" '
Seitdem hat er ihn, diesen Kontrolletti-Blick,
diese lauernde Übersicht, ob die Autos in der
Straße auch wirklich dort hingehören oder
verdächtig sind, wie der Mann, der da gerade aus
dem Blumengeschäft tritt.
Als die Nachstellungen ihm zu bunt wurden,
brachte ihn die Polizei unter falschem Namen in
einem Hotel unter. Als er dorthin eskortiert
wurde in einem zivilen Polizeiwagen, hatte er zum
erstenmal um seine Fassung zu kämpfen. 'Ich
stand völlig neben mir. Ich dachte immer nur:
wie im schlechten Russen-Film. In den
Russen-Filmen war nämlich immer alles möglich.'
Als er aus dem Hotelzimmer bei seinen Eltern in
Eisenhüttenstadt anrief, für die der Sohn der
nicht mehr ans Telefon ging seit Tagen
verschollen war, brach seine Mutter in Tränen
aus. Sie begriff nichts von seiner tatsächlichen
Lage, hatte aber das unabweisbare Gefühl, ihr
Sohn sei in irgend etwas ganz Schreckliches
hineingeraten. Das gleiche Gefühl hatte er
selbst, als er am nächsten Morgen zum
Frühstück ging. Alles voller TV-Teams und
Reporter. Die Polizei hatte ihn in der Höhle des
Löwen untergebracht. Und immer mehr von diesen
Reportern und von den Sympathisanten des
inzwischen einsitzenden Angeklagten begannen
jetzt, sich mit ihm, dem 'Hauptbelastungszeugen',
zu befassen. Keine Spekulation, der nicht
nachgegangen, kein Motiv, das ihm nicht
unterstellt wurde. Für etliche war Jens
Leonhardt jetzt die Haßfigur der Mann, der
dafür gesorgt hatte, daß 'aus Opfern Täter
gemacht wurden'. Geltungssucht wurde ihm
unterstellt und Geldgier, er wurde verdächtigt,
es nur auf die ausgesetzte Belohnung abgesehen zu
haben. Das nahm er hin.
Doch dann begann selbst er, der Maßvolle, sich
'maßlos zu ärgern', als immer neue, immer
aberwitzigere Konstruktionen und Spekulationen
versuchten, eine Verbindung zwischen ihm und den
Neonazis herzustellen. Unterstellung: Aus
politischer Sympathie mit rechts habe er
vorsätzlich und wider besseres Wissen einen
Unschuldigen der Brandstiftung bezichtigt. 'Das
lesen jetzt alle', dachte er voll knirschender,
hilfloser Wut. 'Die Kollegen auf der Arbeit, die
Leute beim Roten Kreuz, meine Eltern, die alten
Freunde in Eisenhüttenstadt. Die, die mir nahe
sind, sind ja kein Problem. Die kennen mich. Aber
was ist mit denen, die mir nicht so nah sind? Was
werden die von mir glauben?'
Mit solchen Problemen blieb er allein. Da konnten
auch die freundlichen Kriminalbeamten, die rund
um die Uhr für ihn ansprechbar waren, nicht
helfen. Jens Leonhardt begann, noch vorsichtiger
zu werden. Trug die Haare nicht mehr so kurz, wie
er gern gewollt hätte. Ließ die Stiefel, die
ihm gefielen, im Geschäft, weil man womöglich
'Springerstiefel' darin hätte sehen können.
Ließ auch die dikke Jacke im Schrank, damit
nicht der Verdacht aufkommen könne, er trage
eine 'Bomberjacke'. Wider Willen lachen mußte er
im Sommer 1996 über einen Auftritt, der für ihn
eigentlich zum Heulen war. Unter konspirativen
Umständen war er mit Freundin und einem
befreundeten Paar an einen bayerischen See in den
Urlaub gefahren, dort aber von einem Journalisten
aufgespürt worden. Der Mann, der angab, für die
ARD zu arbeiten, hatte sich trotz sommerlicher
Temperaturen in Springerstiefel und Bomberjacke
gezwängt, weil er offenbar glaubte, in diesem
Outfit ein besseres Entree zu haben.
'Lächerlich', sagt Leonhardt, 'aber der Urlaub
war im Eimer.'
Irgendwann wollte er sich nicht mehr verstecken.
'Wie lange soll so was denn gehen?' Er beschloß,
wieder auf Feste zu gehen, Veranstaltungen,
Partys. Nahm in Kauf, angestarrt zu werden, und
war ständig auf unangenehme Begegnungen gefaßt.
Vergnügen mit zusammengebissenen Zähnen. Worauf
er am wenigsten gefaßt war, das war dann seine
eigene Zeugenvernehmung vor Gericht. Wohl hatte
ein freundlicher Herr von der Zeugenbetreuung ihm
vorher einmal den leeren Gerichtssaal gezeigt und
die Sitzverteilung erläutert. Man hatte ihm auch
angedeutet, daß seine Befragung lange dauern und
haarig werden könnte.
Schon auf dem Weg ins Gericht hatte er wieder das
'Russenfilm-Gefühl': überall Polizei,
Absperrungen, Blaulicht, das den Weg bahnte zum
Hintereingang und die ganze Zeit das Wissen im
Kopf, das passiert alles nur deinetwegen. Hatten
die anderen doch recht? Die ihm zugesetzt hatten
all die Monate mit ihren fürsorglichen
Vorwürfen: 'Hättest du bloß den Mund gehalten!
Hättest du doch die Sache einfach vergessen!
Jetzt schau dir an, was du angerichtet hast!'
Nein. Er schüttelte die Zweifel ab. Er hatte
richtig gehandelt. Er würde es wieder tun.
Lockerer als erwartet verlief das Wiedersehen mit
dem Angeklagten, der inzwischen ja wieder auf
freiem Fuß war, weil das Gericht 'hinreichenden
Tatverdacht' bejaht, 'dringenden Tatverdacht'
aber verneint hatte. 'Wir haben uns in den
Verhandlungspausen mit vielleicht einem halben
Meter Abstand gegenübergesessen. Da war nichts.
Kein böser Blick. Keine Bemerkung. Gar nichts.'
Sieben Stunden dauerte die Vernehmung von Jens
Leonhardt, und die längste Zeit nahm die
Befragung durch die beiden Verteidigerinnen
Gabriele Heinecke und Barbara Klawitter ein. Der
Sanitäter hatte von ihnen keine
Kirchenchor-Harmonie erwartet, auf Takt- und
Herzlosigkeit war er gefaßt. Nicht darauf, daß
die Vernehmung Kommunikationsgesetzen folgte, die
er nicht begriff. 'Wenn ich auf einen angeblichen
Widerspruch in meinen Aussagen angesprochen
werde, dann versuche ich, ihn zu erklären. Werde
ich zum fünftenmal darauf angesprochen, dann
versuche ich zum fünftenmal, ihn zu erklären.
Und ich erwarte, daß man versucht, meine
Erklärung zu verstehen. Das taten die
Verteidigerinnen aber nicht.' Im Gegenteil. Den
Anwältinnen des Angeklagten konnte es gar nicht
darum gehen, diesen Hauptbelastungszeugen für
ihren Mandanten zu verstehen, sondern möglichst
viele Widersprüche in seinen Aussagen
herauszutüfteln, die womöglich seine
Glaubwürdigkeit erschüttern könnten. Das taten
sie mit Akribie und unendlicher Geduld. Soviel,
daß der Vorsitzende Richter die seine
gelegentlich verlor und darauf hinwies, daß der
Zeuge die gestellte Frage bereits mehrfach
beantwortet habe was Leonhardt 'cool' fand und
dankbar registrierte. Opfer? Er denkt nach,
schüttelt dann den Kopf. Nein, als Opfer habe er
sich eigentlich in keinem Moment gefühlt, auch
bei den indiskretesten Fragen nicht. 'So was muß
man eben ertragen.' Gefühlt habe er sich eher
wie der Zuschauer eines Spiels, dessen Regeln er
nicht begreift.
So geht es ihm heute noch, wenn er den
monatelangen Zank im Gerichtssaal um die
Bedeutung eines Zeugen oder die Wichtigkeit eines
Indizes verfolgt. Am liebsten würde er dann noch
einmal in die Mitte des Gerichtssaales treten und
allen Richtern, Schöffen, Staatsanwälten und
Verteidigern ins Gesicht schreien: 'Aber er hat
es mir doch gesagt!' Er selbst auf der
Richterbank? Eine Horrorvorstellung für den
Jungfrau-Mann. 'Mit halben Wahrheiten könnte ich
nie leben.' Zum Glück für sein eigenes
Seelenheil hat sich nie auch nur der Schatten
eines Zweifels auf seine Gewißheit gelegt, mit
seiner Aussage über das Geständnis von Safwan
Eid die Wahrheit über die Brandstiftung ans
Licht gebracht zu haben. Und an dieser Gewißheit
wird der Prozeß nichts ändern. Egal, wie lange
er noch dauert und wie er ausgeht. Am nächsten
Morgen weinte er, 'weil ich mich so ohnmächtig
gefühlt habe. Weil ich wie ein klägliches
kleines Würstchen dastand' Er war doch als
Helfer ausgebildet worden. Jetzt sollte er
jemanden in die Klemme bringen? War er nicht zum
Schweigen verpflichtet? Für etliche war Jens
Leonhardt jetzt die Haßfigur der Mann, der
dafür gesorgt hatte, daß 'aus Opfern Täter
gemacht wurden'
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