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Nachrichten aus Deutschland und der Welt vom 21. Januar 1997
Staatsanwalt droht Verteidigung mit Strafanzeige
Lübeck Im Lübecker Brandprozeß ist es gestern zu einem heftigen Streit zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft gekommen. Die Verteidigerinnen des Angeklagten Safwan Eid warfen Anklagevertreter Michael Böckenhauer vor, Sachverhalte bewußt zu verfälschen, um seine Theorie aufrechtzuerhalten, Eid sei der Täter gewesen. Böckenhauer kündigte an, er erwäge, deswegen Strafantrag gegen die Verteidigung zu stellen. Die Anklagebehörde wirft Eid vor, das Feuer im ersten Stock des Asylbewerberheims gelegt zu haben, bei dem am 18. Januar 1996 zehn Menschen starben. Bei der Vernehmung eines Kriminalbeamten als Zeugen kamen erneut vier Männer aus Grevesmühlen zur Sprache. Sie waren kurz nach dem Brand festgenommen und einen Tag später wieder freigelassen worden, weil sie ein Alibi hatten. Der gestern gehörte Zeuge hatte drei der Männer festgenommen und auch ihren "Wartburg" durchsucht. Dabei habe er jedoch nichts Verdächtiges gefunden.
Wer hat was wann und wo getan - und warum? Auch nach 32 Verhandlungstagen gibt es keine Klarheit. Was spricht für oder gegen Safwan als Täter, was für oder gegen die Grevesmühlener - oder gibt es eine dritte oder vierte Variante? Unser Gerichtsreporter Manfred Rüscher faßt zusammen:
Welches Motiv hätte der Libanese? Gab es tiefgreifenden Streit im Haus und war es eine "Frage der Ehre", sich mit einem Feuer zu rächen? Spielt Eifersucht um eine im Haus wohnende Frau eine Rolle? Theoretisch möglich, es könnte sein, daß ein als Denkzettel gedachtes Feuer außer Kontrolle geriet. Aber, Safwan war, als der Brand entdeckt wurde, oben im Dachgeschoß in seinem Zimmer. Oder hat er sich aus Berechnung - nachdem das Feuer gelegt war - wieder ins Bett gelegt? Ein Satz einer Hausbewohnerin, die neben der Kammer der Eid-Brüder wohnte, macht nachdenklich: "Bleibt ruhig, es ist nur ein kleines Feuer", soll jemand der Brüder gerufen haben. Woher wußte er das? Und, hätte Safwan seine Familie, die im ersten Stock wohnte, wissentlich in Gefahr gebracht? Hat er sich wirklich - wie Assia el Omari behauptet - nach der Fahrt ins Krankenhaus blitzschnell bei einem Freund umgezogen, um Spuren zu verwischen? Woher stammen die Verbrennungen an den Ohren des Libanesen? Er war im Dachgeschoß relativ weit entfernt vom Feuer und wurde vom Dach über eine Feuerwehrleiter gerettet. Warum erzählte Vater Marwan Eid, er habe eine Explosion gehört (niemand der anderen Bewohner hörte sie) und warum nannte er einen Zeitpunkt, der - soviel steht inzwischen halbwegs fest - eine Stunde mit dem tatsächlichen Ausbruch des Feuers differiert?
Auf den ersten Blick paßt alles zusammen: Sie waren in Lübeck, im Auto lagen Benzinkanister, Haare und Augenbrauen wiesen bei einigen der Jugendlichen Sengspuren auf. Das Motiv? Haß gegen Ausländer vielleicht, oder um einen Einbruch zu vertuschen. Doch sie präsentierten den Ermittlern Erklärungen für alle Fragen. Beim Abfackeln eines Hundes (dessen Reste nie gefunden wurden), beim Abfüllen von Benzin und beim Anzünden eines alten Ofens seien die Versengungen entstanden. Ein Beil, mit dem sie den Hund umgebracht haben wollen, wurde tatsächlich in einem Wald gefunden, auch ein Knochen. Am Beil wurden keinerlei Blut- oder Haarreste gefunden, der Knochen entpuppte sich als Fischknochen. Warum wurden zwei der Grevesmühlener bedroht, warum erhielt die Mutter einer der Jugendlichen einen anonymen Brief, sie möge ihren Sohn zum Geständnis überreden? Die Ermittler glauben den Erklärungen, die Jugendlichen wurden freigelassen. Obwohl die Lübecker Gerichtsmedizin attestierte, daß die Sengspuren nicht älter als 24 Stunden seien. Auffallend ist, daß weder Verteidigung noch Staatsanwaltschaft geneigt scheinen, die Jugendlichen als Zeugen zu vernehmen. Immerhin waren sie - während das Haus bereits brannte - kaum hundert Meter vom Unglücksort entfernt. Warum werden die vier Grevesmühlener nicht unter Eid vor Gericht befragt?
Starke Brandzehrungen im Vorbau könnten dafür sprechen, daß der Anschlag von außen kam. Auch die Aussage von zwei Internatsschülern, die einen "lichterloh brennenden Vorbau" gesehen haben wollen. Ein defekter Briefkasten könnte es in der Tat ermöglicht haben, Brandbeschleuniger in das Gebäude zu bringen und anzuzünden. Die Haustür war verschlossen, der nach dem Feuer im Vorbau gefundene Sylvio Amossou soll noch - als es bereits brannte - gerufen haben, "die Tür ist verschlossen".
Die Experten schließen zwar einen Kurzschluß oder sonstigen technischen Defekt an den Energieanlagen des Hauses aus. Aber es gäbe noch andere Möglichkeiten. Ein überhitzter Backofen etwa, ein Heizlüfter oder eine nicht ganz ausgedrückte Zigarette. Noch am Vortag der Brandnacht sollen im Haus verspätete Silvesterknaller gezündet worden sein, besteht da nicht auch die Möglichkeit eines Schwelbrandes, der - entfacht durch einen Luftzug - plötzlich zur Flammenhölle wurde?
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