"Notfalls ziviler Ungehorsam"
Lübecker Sozialdemokraten fordern Schließung von Sammelunterkünften für Ausländer
Von DIETHART GOOS
Lübeck - Auch vier Tage nach der Brandkatastrophe steht die Hansestadt Lübeck unter Schock. Zahlreiche Einwohner nutzten das Wochenende, um schweigend vor dem ausgebrannten Asylantenheim in der Hafenstraße auszuharren. Nachdem Kripo und Feuerwehr ihre Brandermittlungen abgeschlossen haben, wurde die Ruine mit hohen Metallgittern eingezäunt, vor denen sich eine Mahnwache postiert hat. Ein Meer von Kerzen und Blumen erinnert an die zehn Toten und 38 Verletzten.Die von Polizeidirektor Manfred Sahm geleitete Sonderkommission mit insgesamt 50 Staatsanwälten und Kripobeamten hat seit Ausbruch des verheerenden Feuers in der Nacht zum Donnerstag fast pausenlos gearbeitet. Trotzdem ist es den Spezialisten bisher nicht gelungen, die Identität aller Toten festzustellen. Nur eine afrikanische Frau, die aus dem brennenden dritten Obergeschoß in den Tod sprang, und ihre an den Sprungverletzungen im Krankenhaus verstorbene sechsjährige Tochter konnten bisher eindeutig identifiziert werden. Soko-Chef Sahm sagte, die weiteren sechs Leichen - darunter wahrscheinlich drei Kinder - seien durch das Feuer derart entstellt, daß ihre Identifizierung noch nicht gelang.
Feuerwehr und Kripo konnten bei der das ganze Wochenende andauernden Suche in der Ruine keine weiteren Opfer finden. Eine im ausgebrannten Dachgeschoß vermutete vierköpfige Familie hatte das Haus vor Ausbruch des Brandes verlassen. Demnach steht fest, daß sich 48 Personen in dem Heim aufhielten, als der Brand um 3.42 Uhr in der Nacht zum Donnerstag entdeckt wurde. Es waren ausschließlich Bewohner. Alle 38 Überlebenden erlitten Verletzungen, die vier Schwerverletzten sind nicht mehr in Lebensgefahr.
Wie bereits auf einer Demonstration am Samstag mit mehr als 2500 Teilnehmern, so wurde auch gestern in Lübeck durch Bürgermeister Michael Bouteiller (SPD) und Vertreter von Ausländerinitiativen eine sofortige Schließung von Sammelunterkünften und eine dezentrale Unterbringung von Asylsuchenden gefordert. Bouteiller sagte, er habe keinen Anlaß, von seiner ersten Erklärung angesichts der schrecklichen Katastrophe abzurücken, für die er auch aus der SPD kritisiert worden war.
"Die Ausländerpolitik der Bundesrepublik muß geändert werden. Sammelunterkünfte für Asylsuchende darf es nicht mehr geben." Diese Änderung müsse notfalls auch mit zivilem Ungehorsam durchgesetzt werden. "Wir brauchen endlich eine humane Gesellschaft, hier in Lübeck und überall im Lande", so Bouteiller.
Als Sprecher einer spontan gebildeten Ausländerinitiative sagte der Senegalese Bachar Gadji: "Sollte der Täter einer von uns sein, bedeutet das einen schweren Schock für uns alle. Unabhängig davon brauchen wir schnell andere Unterbringung. Mehr Sicherheit für die Ausländer muß endlich gewährleistet werden."
Copyright: DIE WELT, 22.1.1996
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