Bisher nur Spekulation in Lübeck
Keine klaren Erkenntnisse über die Brandkatastrophe - Anonyme Briefe
Von DIETHART GOOS
Lübeck - Vor zwölf Tagen ging in Lübeck die Asylantenunterkunft Hafenstraße in Flammen auf. Zehn Ausländer kamen im verheerenden Feuer um. Nur drei der insgesamt 48 Bewohner blieben unverletzt. Voreiligen kam ein neuer rechtsextremistischer, von Fremdenhaß geschürter Anschlag gelegen. Verhaftet wurde aber nach zwei Tagen ein tatverdächtiger Hausbewohner. Seitdem hat sich ein Wirrwarr von Spekulationen entwickelt, den Staatsanwaltschaft und Polizei nicht zu ordnen vermögen.Wenige Fakten haben sich die Ermittler der Sonderkommission "I/96" bisher entlocken lassen. Für die Kripo scheint erwiesen, daß kein Brandanschlag von außen auf den dreigeschossigen Komplex verübt wurde. Ein zweifach verriegeltes Türschloß gilt als Indiz. Überlebende der Katastrophe sind dagegen sicher, in der Brandnacht verdächtige Geräusche vor dem Haus gehört zu haben.
Was spricht gegen den Tatverdächtigen? Nach der Aussage eines Feuerwehrmanns soll sich der inzwischen verhaftete Safwan Eid in der Brandnacht mit seinem vermeintlichen Geständnis offenbart haben: "Wir waren es." Gute Gründe hätten die Ermittler für ihre Annahme, der 21jährige Libanese habe nach einem Streit Benzin vor der Etagentür von Gustave Sousou, einem Mitbewohner aus Zaire, angezündet. Manfred Sahm, der Leiter der Sonderkommission, berichtet von Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern. Dies bestreiten die Überlebenden. Auch ist von Eifersucht als weiterem Tatmotiv des Libanesen die Rede.
Große Bedeutung hat ein 20-Liter-Blechkanister, den die Brandermittler im ausgebrannten Flur der ersten Etage fanden. Chemische Analysen konnten Kraftstoffreste in dem Behälter nachweisen. Die libanesische Familie Eid soll zwei solcher Kanister besessen haben, einer ist verschwunden. Definitiv falsch sei die Meldung, erklärten Polizei und Staatsanwaltschaft am vergangenen Freitag, daß der fragliche Kanister erst am selben Tage im ausgebrannten Asylbewerberheim entdeckt wurde. Schon im Zuge erster Ermittlungen sei man darauf gestoßen: Ob der Benzinkanister überhaupt tatrelevant sei, stehe noch nicht fest.
Unterdessen werden Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis und Lübecks Bürgermeister Michael Bouteiller (beide SPD) nach der Lübecker Brandkatastrophe in anonymen Briefen beschimpft und bedroht. Bouteillers Post wird gegenwärtig mit einem Röntgengerät auf Sprengstoff untersucht.
Der Lübecker Bürgermeister hat nach seinem Aufruf zum zivilen Ungehorsam gegen die Ausländergesetze Post aus ganz Deutschland erhalten. "Dreißig Prozent haben mir zugestimmt oder gratuliert, vierzig Prozent lehnen meine Äußerungen ab, weitere dreißig Prozent haben mich anonym beschimpft", sagte Bouteiller. Nach Angaben des Lübecker Presseamtes wird er unter anderem als "Nestbeschmutzer, Deutschenhasser" oder "Ausländerspeichellecker" beschimpft. Lübeck kommt nicht aus den Schlagzeilen.
Copyright: DIE WELT, 29.1.1996
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