LEITARTIKEL
Nachdenken über Lübeck
Von THOMAS LÖFFELHOLZ
Für die zehn Menschen, die am 18. Januar 1996 ihr Leben bei der Brandkatastrophe von Lübeck verloren, spielt es keine Rolle mehr, wer denn den Brand gelegt hat. Sie sind tot. Es würde ihnen auch nichts helfen, wenn es nur ein Unglück gewesen wäre. Daß sich die Staatsanwälte inzwischen sicher sind, daß ein oder mehrere Libanesen wegen Streitereien in dem Ausländerheim das verheerende Feuer legten, macht niemanden mehr lebendig.
Der Lübecker Oberbürgermeister Bouteiller geht noch einen Schritt weiter. Ihm scheint es nach der hektischen, manchmal hysterischen Debatte, die nach dem Brandanschlag geführt wurde, auch für die deutsche Politik und Gesellschaft eher zweitrangig, ob hinter dem Brandanschlag rechtsradikale Deutsche oder Asylbewerber stehen, die den Belastungen in dem Ausländerheim nicht gewachsen waren. Ist es nicht egal, wodurch eine Gesellschaft sich Schuld auflädt, ob dadurch, daß in ihr rechtsextremistisches Denken Boden gewinnt und moralische Normen über Bord gehen - oder dadurch, daß man in Asylbewerberheimen Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen "zusammenpfercht", wie eine große Zeitung schrieb?
Doch so einfach ist die Sache nicht. Der Tod ist nicht immer gleich, jedenfalls nicht in den Gefühlen der Überlebenden. Es ist für die Diskussion um "Lübeck", ja für das Klima im Lande entscheidend, ob der Brand "nur" ein Unfall war - und genauso, wer ihn gelegt hat. Unfälle, selbst Katastrophen geschehen überall. Jährlich kommen allein in der Bundesrepublik über 12 000 Menschen durch Sturz ums Leben und 7000 im Straßenverkehr. Viele sterben in brennenden Häusern. Manchmal wäre es zu vermeiden gewesen, wenn Menschen nur aufgepaßt hätten, manchmal ist es unvermeidlich. Sie sind tot wie die Opfer von Lübeck. Und doch können wir hier nur mit dem Schicksal hadern.
Der Tod ist noch nicht einmal gleich, wenn sich herausstellt, daß es kein Unglück war, sondern Mord. Ein Familiendrama berührt uns wie ein Unglück. Es war Schicksal. Und wenn bei einem Brandanschlag die Täter Kurden waren und die Opfer Türken, dann scheint es schon weniger schlimm. Welch furchtbare Gleichgültigkeit. Sind nicht alle Menschen gleich? Ist nicht jedes Leben gleich viel wert? Und doch reagieren Menschen verschieden, je nach ihrer Betroffenheit. So furchtbar die Konflikte zwischen Kurden und Türken auch sind, so unbegreiflich ihr Haß, es sind nicht "unsere" Konflikte, wir verstehen sie noch nicht einmal, genauso wenig wie wir wirklich verstehen, was sich in Bosnien abspielt.
Und deshalb kann auch nur einer, der solchen Unterschieden gegenüber blind ist, so tun, als sei es für das Klima in diesem Lande gleich, ob "Lübeck" ein nationalistischer Anschlag von Leuten der rechtsextremen Szene war oder der Konflikt zwischen den Insassen eines Ausländerheimes, die in der Enge einer solchen Unterkunft nicht miteinander leben konnten. Es liegt auf der Hand, daß man über die Bundesrepublik anders reden würde, wenn die Schlagzeile des angesehenen britischen "Guardian" vom Tag nach dem Attentat wahr gewesen wäre: "Nazi-Angriff tötet 10 in Deutschland". Wir hätten eine massive Debatte über den militanten Rechtsradikalismus, vielleicht würden viele wieder Lichterketten bilden wie nach dem Anschlag in Solingen.
Die Tatsache, daß der Anschlag geklärt zu sein scheint, lädt dazu ein, über die Reaktionen nach dem Attentat noch einmal nachzudenken. Das Urteil war sofort gefällt, die Schuldigen schienen ausgemacht. Den Kommentatoren blieben - so formulierte eine große Zeitung - "die gewohnten Beschwichtigungen. . . im Halse stecken." Und der Lübecker Oberbürgermeister rief angesichts dieser Vorgänge zu "zivilem Ungehorsam" gegenüber diesem Staat auf. Vor dem abgebrannten Haus demonstrierten tausende gegen den Rechtsradikalismus im Lande. Man kann gegenüber dem Ungeist der Vergangenheit nicht wachsam genug sein. Es ist auch kein Wunder, ja vielleicht ist es gut, daß in diesem Land die Nerven blank liegen, wenn es um Verbrechen mit neonazistischem Hintergrund geht.
Doch wenn es kein solches Verbrechen war, zwingt sich die Frage auf, ob es nicht ein Zeichen von politischer Unreife und Hysterie in einer Gesellschaft ist, daß man die Ermittlung der Tatsachen nicht mehr abwartet. Man weiß, was geschehen ist, man urteilt und verurteilt, kommentiert und bewertet, ohne den Gedanken ins Auge zu fassen, daß alles anders gewesen sein könnte.
Und es ist auch kein Ruhmesblatt, wenn jene, die am Anfang die Täter geistig schon dingfest gemacht hatten, jetzt meinen, ob Rechtsradikalismus oder eine zu enge Unterbringung von Asylbewerbern sei eigentlich das gleiche. Wer so die Dinge vermischt, der wird keine ernsthafte Debatte über Verantwortung und Schuld in Gang setzen. Er wird nur Gedankenlosigkeit oder Wut erzeugen.
Damit keine Mißverständnisse entstehen: Es gibt natürlich in dieser Gesellschaft Haß und Bereitschaft zu Terror von rechts wie von links. Und wir können nicht ernsthaft annehmen, daß - nur weil sich das Drama von Lübeck als Konflikt zwischen Heimbewohnern erweist - der Rechtsradikalismus im eigenen Land überwunden sei. Wir werden auch in Zukunft Anlaß haben zu prüfen, ob wir genug gegen menschenverachtende Gedanken getan haben. Umgekehrt ist es natürlich berechtigt, wenn Menschen fordern, daß darüber debattiert werde, ob Flüchtlinge und Asylbewerber in Deutschland angemessen untergebracht werden. Aber dies sind unterschiedliche Fragen. Über aller Trauer wird diese Gesellschaft für ihre Bürger nur dann glaubwürdig bleiben, wenn wir vermeiden, was in den Stunden nach dem Lübecker Attentat geschah: leichtfertige Anklagen, die gefährliche Emotionen schüren.
Copyright: DIE WELT, 2.3.1996
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