Es ist ein politischer Fall. Wenigstens darin stimmen Staatsanwälte und Verteidiger in Lübeck überein. Mehr als vier Monate sind vergangen, seit das Asylbewerberheim an der Hafenstraße 52 ausbrannte und zehn Bewohner den Tod fanden. Den jungen Libanesen Safwan E. halten die Ermittler nach wie vor für den Brandstifter. Er beteuert bis heute seine Unschuld.
Ginge es nach dem Willen der Lübecker Staatsanwälte, könnte schon bald Anklage gegen den jungen Mann erhoben werden, der drei Jahre lang mit seinen Eltern und sechs Geschwistern in der Unterkunft an der Hafenstraße lebte. Doch die Anklageschrift von Oberstaatsanwalt Michael Böckenhauer steht auf schwachen Füßen. Denn letztlich stützen sich die Ermittler auf die Aussage eines einzigen Zeugen: Ein Rettungssanitäter, der in der Brandnacht am Unglücksort Dienst tat, habe von Safwan E. den folgenschweren Satz gehört: "Wir waren's." Außerdem soll der Libanese dem Zeugen erzählt haben, er habe sich an einem Hausbewohner rächen wollen und deswegen eine brennbare Flüssigkeit an dessen Tür gegossen. Für die Staatsanwälte klang dies wie "Täterwissen".
Doch das vermeintliche Racheopfer erklärte, es sei niemals zu Streit mit der libanesischen Familie gekommen. Auch wurden keine Reste von Benzin am Brandort gefunden. Dennoch bleibt Safwan E. weiterhin unter Mordverdacht in Einzelhaft. In einem zweiten Haftbefehl, der von einer Kammer des Lübecker Landgerichts im März erlassen wurde, fehlen allerdings Hinweise auf ein Motiv. Auch bei der Tatzeit ist sich das Gericht nicht mehr so sicher. Kurz nach der Verhaftung war von 3.30 Uhr die Rede. Jetzt lautet die Formulierung: "Gegen 3.30 Uhr oder geraume Zeit zuvor."
"Dieses Verfahren ist eine der größten Katastrophen dieses Jahrzehnts", sagt Gabriele Heinecke, die Hamburger Anwältin von Safwan E. Sie sammelt Hinweise, die an der Überzeugung der Ermittler rütteln, allein Safwan E. komme als Täter in Frage. Ein Anschlag von außen ist für die Verteidigerin denkbar. Frau Heinecke organisierte eine Untersuchung des Brandortes durch den pensionierten Oberbranddirektor der Stadt Frankfurt am Main, Ernst Achilles. Der bekannte Sachverständige hält es für "durchaus möglich", daß das Feuer im Eingangsbereich des Erdgeschosses ausgebrochen sein könnte. Diese Spur sei, so Achilles, von den Brandexperten des Kieler Landeskriminalamtes und des Bundeskriminalamtes nur "unzureichend untersucht" worden.
Nicht ins Bild paßt auch der Tod des im Erdgeschoß verbrannt aufgefundenen Hausbewohners Silvio A., in dessen Lungen die Gerichtsmediziner nur sehr geringe Rußspuren entdeckten. Offenkundig hatte er nicht mehr geatmet, als das Feuer über ihn hereinbrach. Für die Staatsanwaltschaft nur eine Nebensächlichkeit, der sie nicht weiter nachgegangen ist.
Die Ermittler haben mit weiteren Pannen und Versäumnissen der Verteidigung unfreiwillig zugearbeitet. So gingen den Behörden zwei wichtige Asservate verloren: Kriminalbeamte hatten eine Zarge der verriegelten Haustür am Brandort beschädigt vorgefunden und zur Untersuchung an die Kriminaltechnische Untersuchungsstelle in Kiel übersandt. Dort ist das Beweisstück nie angekommen. Ebenso unauffindbar ist die stark verkohlte Bodenplatte, die die Kripo am angeblichen Brandherd im ersten Stock sicherstellte. "Höchst bedauerlich", räumte Böckenhauer ein.
Nicht minder bedauerlich ist ein Versehen in der polizeilichen Skizze des Brandhauses. In der ansonsten detailgetreuen Zeichnung sparten die Kriminaltechniker eine Kleinigkeit aus: Ein Fenster im Erdgeschoß wurde nicht eingezeichnet. Als der Brandexperte Achilles den Unglücksort besuchte, konnte er dieses Fenster problemlos öffnen, eine Sperre existierte nicht. "Eine Folge des Brandes", erklärt Staatsanwalt Klaus Dieter Schultz. Dem widersprechen Hausbewohner: Das schmale Fenster sei nie verriegelt worden.
Und noch etwas entlastet den Beschuldigten: An den Händen und im Gesicht hatte er keine für Brandstifter typische Versengungen. Solche frischen Spuren - erinnert sich Gabriele Heinecke - stellte die Polizei allerdings bei den jungen Neonazis aus Grevesmühlen fest, die unmittelbar nach dem Brand festgenommen, bald aber wieder freigelassen worden waren, weil sie zur Tatzeit ein Alibi hatten. "Etwas merkwürdig" findet auch Staatsanwalt Böckenhauer die Erklärungsversuche der Grevesmühlener: Sie hätten einen Hund mit Haarspray besprüht, ihn angezündet und dabei sich selbst versengt.
Ungereimtheiten wie diese hat die Verteidigerin akribisch aufgelistet, der Staatsanwaltschaft vorgehalten und zugleich in einer Pressemitteilung an die Öffentlichkeit gebracht. Safwan E., so die Hamburger Anwältin, brauche eine Verteidigung, welche die politische Dimension des Falls nach außen trägt. Darin unterscheidet sie sich von ihrem Lübecker Kollegen Hans-Jürgen Wolter. Der hatte den Weg der handwerklich soliden Strafverteidigung gewählt; Frau Heinecke baut offenbar auf die Medienwirksamkeit des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft habe den Brandanschlag erst zum "politischen Fall" aufgeblasen, rechtfertigt sie ihr Vorgehen. "Die Ermittler suchen den Täter lediglich unter den Opfern."
Wenn auch nur ein vager Verdacht auf einen fremdenfeindlichen Anschlag in Deutschland aufkomme, sei dies "Grund genug für das Ausland, sich einzumischen". Für diese Einmischung sorgte Anwältin Heinecke persönlich: Kurz bevor sie das Mandat übernahm, hatte sie sich mit Anwälten aus mehreren europäischen Ländern darauf verständigt, ein Untersuchungsgremium ins Leben zu rufen. Die "internationale unabhängige Kommission", die sich nichts Geringeres als das "Herausfinden der Wahrheit" auf die Fahnen geschrieben hat, reiste nach Lübeck, gab eine Pressekonferenz und verabschiedete sich. Ein Gespräch mit Safwan E. kam nicht zustande, weil man sie in der Haftanstalt zu lange warten ließ, behauptet das Londoner Kommissionsmitglied Geoffrey Bindman. "Die sind einfach eine Stunde zu spät gekommen", entgegnen die Lübecker Staatsanwälte.
Sicher ist: Die ausländischen Rechtsanwälte können sich kaum selbst ein Bild von den Ermittlungen in Lübeck machen. Deswegen hilft das Büro Heinecke aus: Es organisiert den Schriftverkehr und liefert aktuelle Informationen zum Verfahrensverlauf. Von dieser Auskunftsbereitschaft profitieren auch linke Gruppen wie das Bündnis gegen Rassismus in Lübeck, eine von mehreren antifaschistischen Gruppen der Hansestadt, die den Ermittlungsbehörden mißtrauen.
Die Staatsanwaltschaft soll vor Beginn der Hauptverhandlung in die Zange genommen werden: durch Heineckes gründliche Recherchen einerseits und den politischen Druck einer internationalen Öffentlichkeit andererseits. Doch Böckenhauer und Schultz nehmen das alles gelassen. Sie lehnen es ab, sich mit den Kommissionsmitgliedern überhaupt zu unterhalten. "Diese Kommission ist eine Ehrverletzung gegenüber der Staatsanwaltschaft und dem Rechtsstaat Bundesrepublik", meint Schultz.
Auch Rechtsanwalt Wolter, durch die medienpolitische Offensive seiner Hamburger Kollegin in den Hintergrund geraten, hält nicht viel von der Doppelstrategie. Er glaubt nicht daran, daß dieses Vorgehen "bei Gericht auch nur einen Schritt weiterführt, eher im Gegenteil". Und er fürchtet, daß auf Kosten von Safwan E. große Politik gemacht wird: "Nicht alles, was dem Anwalt nützt, nützt auch dem Mandanten."
(c) DIE ZEIT/Ausgabe Nr.22 vom 24.5. 1996
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