Zum 6.11. in Göttingen

Auswertung

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Am 6. November ’99 sollte in Göttingen ein faschistischer Aufmarsch stattfinden. Anmelderin war die örtliche NPD, maßgebliche Drahtzieher waren jedoch unabhängige Kameradschaften unter Führung von Thorsten Heise aus Northeim. Gegen den Aufmarsch stellte sich sowohl eine bundesweite Antifamobilisierung des autonomen Spektrums als auch ein Bündnis in der Stadt.
Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg bestätigte ein Verbot des Naziaufmarsches durch die Stadt Göttingen aufgrund eines Formfehlers im Widerspruchsverfahren seitens der NPD. Auch sämtliche Kundgebungen in der Nähe des Aufmarschortes, zu denen die Autonome Antifa [M] aufrief, wurden verboten. Nur eine vom DGB angemeldete Bündnisdemonstration war genehmigt worden. An ihr nahmen, unter großer Beteiligung autonomer AntifaschistInnen, 5000 Menschen teil.
Da die Aktionen zum 6.11.’99 uns mit Problemen konfrontierten, vor denen autonome Antifagruppen aufgrund der Vielzahl der Naziaufmärsche immer wieder stehen, veröffentlichen wir diese schriftlich Auswertung.

hintergrund
Im Internet und auf Nationalen Infotelefonen wurde unter dem Motto „Gegen linken Terror und Justizwillkür“[1] zu einem Marsch gegen die Autonome Antifa [M], stellvertretend für den autonomen antifaschistischen Widerstand, aufgerufen. Dieser direkte Angriff auf eine einzelne Antifagruppe stellt ein Novum in der Anti-Antifa-Praxis dar. Wir rechneten mit 500 bis 1000 Faschisten.
In Anbetracht der Verbotspraxis der Gerichte der letzten Jahre in der BRD war davon auszugehen, dass der Aufmarsch spätestens auf Oberverwaltungsgerichtsebene genehmigt werden würde. Von der NPD angemeldete Aktionen wurden in der Vergangenheit immer dann erlaubt, wenn bis zur letzten Instanz geklagt wurde.
Einzige Ausnahmen bilden Bremen
(1. Mai 1999) und Hamburg (1. Versuch der Faschisten gegen die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht 1941-44.“ im Juni 1999), die wegen der erhöhten „Gefahrenprognose“ (regelgerecht angemeldete Versammlungen können nur aufgrund der „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ verboten werden) und somit wegen eines Polizeinotstandes verboten blieben.
Erfahrungen von Antifagruppen aus anderen Städten zeigten, dass eine Verhinderung faschistischer Aufmärsche in der Regel nicht möglich ist.
Gerade bei den Nazi-Grossaufmärschen, die auf breites öffentliches Interesse stiessen, waren AntifaschistInnen mit einem martialischen Polizeiaufgebot konfrontiert, das die Naziaufmärsche durchsetzte. Es kam zwar gelegentlich zu militanten Auseinandersetzungen und Angriffen gegen die anreisenden Faschisten, die faschistische Veranstaltung selbst wurde aber fast nie in ihrem Ablauf gestört.
In einigen Fällen kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

die antifamobilisierung
Unsere Mobilisierung lief unter dem Motto „Faschisten bekämpfen! zusammen. auf allen ebenen. mit allen mitteln.“
Das Motto sollte keine nicht einlösbare Verhinderungsaufforderung beinhalten, zugleich aber deutlich machen, dass verschiedene gesellschaftliche Kräfte an diesem Tag mit „ihren Mitteln“ gegen Faschisten vorgehen würden.
Als Aktionen für den Tag riefen wir zu Kundgebungen und Blockaden an den Göttinger Einfallstrassen auf, die dem Ziel, den Aufmarsch zu be- oder verhindern, möglichst gerecht werden sollten. Autonome AntifaschistInnen sollten sich sammeln können und die Anreise der Nazis nach Möglichkeit blockiert werden.
Am Nachmittag sollte eine antifaschistische Bündnisdemonstration stattfinden.
Gerade für den Fall, dass überhaupt kein Durchkommen zu den Faschisten möglich sein würde, war uns die Demonstration als politischer Ausdruck der (autonomen) Antifa-Bewegung ein wichtiges Anliegen. Sie sollte deutlich machen, dass hinter der Parole „Faschisten bekämpfen!“ ein politisches Anliegen steht, das sich nicht allein in militantem Auftreten auf der Straße ausdrückt und sich auch nicht darauf reduzieren läßt.

„eine stadt wehrt sich!“[2] – bündnispolitik
Antifaschismus muß – wenn er erfolgreich sein will – auf ein möglichst breites Bündnis auch mit bürgerlichen AntifaschistInnen abzielen. Dazu zählen auch politische Kräfte, die aus moralischen Gründen den Faschismus als Perversion ablehnen.
Es gibt keine Alternative dazu, das Angebot zur Zusammenarbeit gegen einen gemeinsamen Gegner aufrecht zu erhalten, wollen wir einer Isolation unserer Politik entgehen.
Im konkreten Fall hiess das die Beteiligung an einem vom DGB initiierten Aktionsbündnis gegen den geplanten Aufmarsch, an dem sich über 70 Gruppen beteiligten.
Gleichzeitig gab es parallel ein unabhängiges linkes/linksradikales Treffen, an dem sich autonome AntifaschistInnen, Jugend- und SchülerInnengruppen sowie universitäre Gruppen beteiligten.
Das vom DGB initiierte Bündnis wies eine Breite von Autonomen bis hin zur SPD auf und aktivierte sogar Gruppen, die in der Regel politisch kaum in Erscheinung treten. Kleinster gemeinsamer Nenner des Bündnisses war der Wille, den Nazis in Göttingen keinen öffentlichen Raum zu überlassen. Einige der beteiligten Gruppen sahen die willkommene Gelegenheit, sich einen antifaschistischen Anschein zu geben, ohne sich politisch allzu weit aus dem Fenster zu hängen.
Es war von vornherein klar, dass aufgrund des politischen Kräfteverhältnisses das Bündnis nicht von linksradikalen, sondern von bürgerlichen Kräften dominiert sein würde.
Der DGB hatte mit der Einladung zum Treffen und der Anmeldung einer Gegendemonstration Fakten geschaffen, die ihn unangefochten an die Spitze des Bündnisses setzten.
Es war jedoch nicht möglich, auf die Teilnahme am DGB-Bündnis zu verzichten und allein auf die eigene Aktion zu setzen. Ziel unserer Beteiligung war, eine Entsolidarisierung seitens der bürgerlichen Kräfte zu verhindern und wenigstens ein Nebeneinander der verschiedenen Aktionsformen zu erreichen.
Letztendlich ist immerhin dieses Vorhaben geglückt. Der Bündnisaufruf zur DGB- Demo kündigte die geplanten Blockaden mit an, wenn er auch nicht dazu aufrief. Die an sich auch für bürgerlichen Protest angemessene Aktionsform der Blockade[3] stieß auf starken Widerspruch, ebenso wie alle anderen Versuche, den autonomen Antifaschistinnen bei den Bündnisaktivitäten ein Gewicht zu verleihen, das ihrer Präsenz am 6.11.’99 entsprochen hätte.
Das Göttinger linksradikale Spektrum war leider zu uneinheitlich, um ein Rederecht autonomer AntifaschistInnen auf der DGB-Kundgebung durchzusetzen. Wäre dies gelungen, wäre die große Beteiligung autonomer Gruppen im Nachhinein in der Öffentlichkeit nicht so einfach zu verleugnen gewesen.
Auf der Demonstration selbst eröffnete sich ein für die letzten Jahre in Göttingen ungewöhnlicher Handlungsspielraum. Um sich selbst ein antifaschistisches Image zu geben, hielt sich die Polizei während der Bündnisdemonstration weitgehend zurück. Durch Vermummung hätten sich große Teile der Demonstration nicht nur vor Polizei- und Anti-Antifa-Kameras schützen können, sondern hätten auch unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie militante AntifaschistInnen sind. Einer öffentlichen Vereinnahmung als Füllmasse der DGB-Demo wäre so entgegengewirkt worden.

antifaschistische politik in der öffentlichkeit
In jeder Stadt geht mit den öffentlichen Debatten vor Naziaufmärschen die Hetze gegen autonome AntifaschistInnen im Sinne der Totalitarismustheorie einher. Die Totalitarismustheorie konstruiert eine von rechts und links bedrohte demokratische Mitte. Sie dient dazu, antifaschistische Politik als totalitär zu diffamieren und letztendlich jeden Gedanken an emanzipatorische Alternativen zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung aus den Köpfen zu vertreiben.
Die Gleichsetzung von Rechten und Linken unterfüttert ideologisch regelmäßig die Verbotspraxis der Gerichte gegen Antifademonstrationen und Polizeistaatsaufgebote auf antifaschistischen Veranstaltungen.
Auch die Stadt Göttingen ließ im Vorfeld des Naziaufmarsches verlautbaren, dass sie den „Kleinkrieg“ zwischen Autonomen und Neonazis an diesem Tag nicht dulden werde und ein „angemessenes“ Polizeiaufgebot bereitstellen lassen wolle.
Die Verbotsverfügung der Antifakundgebungen und Demo am 6.11.’99 wurde schon im Vorfeld per Lokalpresse angekündigt und entsprechend gegen die autonomen AntifaschistInnen ausgeschlachtet.
Nicht zuletzt dadurch gerieten unsere Aktionsformen gegenüber den „bürgerlichen“ ins Hintertreffen.
Das gemeinsame Auftreten mit den bürgerlichen Kräften im Bündnis, war die einzige Chance, der „Totalitarismusfalle“ zu entgehen. Der Aufforderung der CDU, sich von den Autonomen im Bündnis zu distanzieren, folgte keine der Beteiligten Gruppen. Das machte es schwieriger, uns in der Presse als „Chaoten/Extremisten“ darzustellen.
Die von uns angekündigten Kundgebungen und Blockaden blieben auch nach einem Widerspruchsverfahren mit der Begründung der „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ verboten. Mit Anmeldungen über Parteien (z.B. PDS) wäre dies nicht so leicht möglich gewesen. Es stellt sich also als Fehler dar, nicht diesen Weg gegangen zu sein.

kommt zeit, kommt rat…
Ein von der „Antifaschistische Brigade Söderberg“[4] etwa eine Woche vor dem geplanten Aufmarsch durchgeführter Anschlag (28.10.’99) gegen das Auto und CD-Vertriebs-Lager von Thorsten Heise sorgte dafür, dass die überregionale Presse aufmerksam wurde. Die „Antifaschistische Brigade Söderberg“ machte deutlich, dass der Kampf gegen Faschisten nicht nur reaktiv sein muss und sich nicht auf einen Tag wie den 6.11.’99 beschränkt, an dem der Spielraum für radikale antifaschistische Kräfte nur gering ist und die bürgerliche Öffentlichkeit die bürgerlichen Aktionsformen abfeiert.
Für Irritation bei den Behörden sorgte auch ein großflächig verteilter Sperrmüllaufruf (der den Autonomen zugerechnet wurde), der die Göttinger BürgerInnen aufforderte, am Morgen des 6.11.’99 sperrige Abfälle für eine „städtische Sonderaktion“ bereitzustellen.

fazit
Am 6.11.’99 fand in Göttingen kein Naziaufmarsch statt. Die wenigen Nazis, die sich nach Göttingen verirrt haben, trafen auf entschlossene Gegenwehr.
Dass letztendlich 5000 Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet in Göttingen unter dem Motto „Gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus“ auf die Strasse gingen und der Naziaufmarsch nicht stattfand, ist ein positives Signal. Am Tag selbst ist es aber kaum gelungen, als autonome Antifabewegung in Erscheinung zu treten. Wir gingen, auch
in der darauffolgenden Berichterstattung, als Füllmasse des DGB unter. Das ist ein Misserfolg.
Dennoch: Das Anliegen der Faschisten war es, am 6.11.’99 die linke und vor allem antifaschistische Dominanz zu brechen und sich ein Stück der politischen Öffentlichkeit zu erobern. In der „Heimatstadt der Autonomen Antifa (M)“ (Aufruf der Faschisten) aufzumarschieren hätte sowohl für Nazis als auch für die Antifabewegung hohe Symbolkraft gehabt.
Dieses Vorhaben ist mit einer der größten antifaschistischen Demonstrationen dieses Jahrzehnts in Göttingen beantwortet worden.
Ihren Erfolg verdankt diese Demonstration nicht zuletzt der jahrelangen Präsenz und Verankerung antifaschistischer Politik in der Region.

der kampf geht weiter!
Die Faschisten sind hier aufgrund der großen Öffentlichkeit, die gegen den Aufmarsch geschaffen wurde, zu der auch militante Aktionen, wie der Anschlag der Brigade Söderberg gehören, zumindest vorläufig in die Defensive geraten.
Sorgen wir dafür, dass das so bleibt!
Für den 29.1.2000 plant die NPD einen erneuten Versuch, in Göttingen aufzumarschieren. Bereits jetzt wird wieder über Nationale Infotelefone und das Internet mobilisiert.
Lassen wir auch diese Provokation nicht unbeantwortet!
Beteiligt euch!
Kommt am 29.1.1999 nach Göttingen!

autonome antifa [m]
dezember 1999
organisiert in

 

anmerkungen
1 Im Original des faschistischen Aufrufes heißt es:…„daß Göttingen die Hochburg linker Gewalt in der BRD ist… Abgebrannte Autos, Wohnungseinbrüche, Raubüberfälle, Körperverletzungen usw. sind in unserer Region an der Tagesordnung.“ [zurück]
2 Überschrift des Aufrufflugblattes des von DGB initiierten Bündnisses. [zurück]
3 Siehe Verlauf und Aktionen der Gegenaktivitäten zum NPD-Kongreß am 7. Februar 1998 in Passau. [zurück]
4 Siehe dazu Originaltext der Erklärung in der Zeitschrift „interim“, Nr. 488/25.11.99, im Szeneblättchen „göttinger drucksache“, Nr. 360/3.12.’99 sowie in der Zeitung für autonome Politik „EinSatz!“, Nr. 42/Dezember ’99. [zurück]