Wahlkampfzeiten
Wahlkampfzeiten
waren früher Zeiten, in denen die großen Parteien ihre
jeweiligen Wahlkampfprogramme vorstellen und ihre Kandidaten und
ihre üblichen Wahlversprechen groß in Szene setzen. Doch
davon ist im Jahr 2002 noch nicht viel zu spüren. Eher kleine
Scharmützel und verschiedene kleine und große Bauernopfer
bestimmen das Geschehen. Die Parteien verzichten fast gänzlich
auf größere Versprechen bzw. müssen diese nach der
Prüfung, ob diese denn finanzierbar seien, wieder zurücknehmen.
Ideologische Gefechte gehören offensichtlich der Vergangenheit
an, so kommt es zu einem Wahlkampf der Kandidaten. Ob der Kanzler
mit ruhiger Hand, der Bayer, der zuviel Kreide fraß, oder
die FDP, die ihren erstmalig gekürten Kanzlerkandidaten im
Guidomobil durch die Lande fahren lässt und dabei Spaß
als Programm verkündet: alles eine Frage der Inszenierung.
Und die Grünen, die vier Jahre Regierungspolitik hinter sich
und damit das geschafft haben, was ihnen wenige zutrauten, nämlich
schon voll regierungstauglich zu sein, haben als Spitzenkandidaten
den beliebtesten Politiker Deutschlands. Den deutschen Außenminister,
der in einer kaum vergleichbaren Rhetorik Deutschland wieder in
einen Krieg führte und, anders als seine Vorgänger in
diesem Jahrhundert, diesen auch noch gewann. Dieser Menschenrechtskrieger
bildet das Flaggschiff der Grünen und kommt jetzt auf seiner
Wahlkampftour auch in das liberale, weltoffene Göttingen. Es
könnte ein Heimspiel werden, wenn auf die Prozentwerte der
Grünen in Göttingen geschaut wird, natürlich mit
der üblichen Kritik, die sich die Grünen und im speziellen
der Außenminister immer gefallen lassen müssen. Immerhin
war es ja eine Partei der Friedensbewegung, und nicht alle Reste
dieser Bewegung sind davon überzeugt, dass die Grünen
auf dem richtigen Weg sind. Und so wird Kritik und Protest vorgetragen,
um auf die scheinbaren Irrwege aufmerksam zu machen und Gehör
zu finden. Für die Grünen gehört dies zu ihrem Image,
sich der Diskussion zu stellen, auch unangenehme Fragen zuzulassen
und immer offen für QuerdenkerInnen zu sein. Wer nicht Teil
dieses Dialogs sein will, muss sich in Konfrontation dazu begeben
und sich außerhalb dessen positionieren. Dabei sollte auch
den Grünen nicht einmal der Gefallen getan werden, sie als
VerräterInnen zu bezeichnen, denn Verrat konnten die Grünen
nicht begehen, nicht mit irgendeinem Krieg, irgendeiner Regierungsbeteiligung.
Mit ihrer Gründung als Partei im Jahr 1980 begannen sie den
Marsch durch die Institutionen, der Eintritt in Parlamente war der
Austritt aus einer radikalen Bewegung, und er konnte nie etwas anderes
sein.
Demokratie, Parlamente
und der Rest
War das Auftreten
der Grünen lange an sich schon eine Provokation, waren Parlamentarier
anfangs schockiert, stellte sich schnell die Frage, was Stricken
im Abgeordnetenhaus vom Zeitungslesen eigentlich unterschied. Und
wenn der Außenminister heute noch Turnschuhe tragen würde,
es verstöße vielleicht gegen so manche Etikette, aber
an den geschaffenen Fakten würde es nichts ändern. Entscheidend
bleibt, was hinten rauskommt.
Im deutschen Nationalstaat mit einer parlamentarisch organisierten
Demokratie, in der der politische Gestaltungsspielraum zwischen
verschiedenen wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Interessengruppen
ausgehandelt wird, scheinen die Grünen als VertreterInnen der
humanistischen Gruppen noch das kleinste Übel. Dieser Rahmen
steht selbstredend auch nur auf der Grundlage einer kapitalistisch
verfassten Weltordnung.
Jede Regierungspolitik findet so ihre Basis im Wettbewerb der Nationalstaaten,
den attraktivsten Wirtschaftsstandort zu präsentieren und parallel
die innerstaatliche Ordnung und Sicherheit aufrecht erhalten zu
müssen.
War Wählen schon immer nur ein Akt, in dem die Annahme des
politischen Systems zum Ausdruck gebracht wurde und damit auch die
ökonomische Grundlage, auf dem es basiert und welche es verwaltet,
scheinen bei dieser Wahl fast alle Unterschiede zwischen den Parteien
gefallen zu sein. Im Angesicht einer weltwirtschaftlichen Krise,
leerer Kassen und des Wirtschaftsstandorts, kann nur noch unter
dem Primat des Sachzwangs eine Verwaltungstätigkeit wahrgenommen
werden, die im Sinne der "wirtschaftlichen Gesundung"
des Landes agiert. So setzt sich ein Trend der Entideologisierung
des Wahlkampfes fort und gipfelt vorerst in einem Personenwahlkampf,
der deutlicher denn je aufzeigt, worum es bei jeder Wahl geht: Personen
zu wählen, die den ökonomischen Sachzwängen entsprechend
Deutschland verwalten.
Und die Grünen, wie könnten sie sich diesen Sachzwängen
entziehen, müssen sie doch auch um jeden Cent im Staatssäckel
kämpfen, um wieder mehr politischen Gestaltungsraum zu gewinnen.
So bleibt ihnen die Wahl, mitzuziehen und in der Konkurrenz der
Parteien mehr für Deutschland rauszuholen. Dafür kämpft
der jetzige deutsche Außenminister mit Leib und Seele. Denn
wer glaubt schon ernsthaft, dass jemand die deutschen Interessen
im Ausland besser repräsentieren könnte als dieser Altachtundsechziger?
Zumindest in den letzten vier Jahren hat er dies mit Bravour erledigt.
Kaum jemand bezweifelt dies, weder in Deutschland noch im Ausland,
weder die Regierung, noch die Opposition und die radikale Linke
schon gar nicht. Ausnahme bleiben wohl ein paar Linksliberale und
enttäuschte Grüne selbst, die die Hoffnung hatten, der
neue deutsche Außenminister würde etwas anderes mit seinem
Amt anfangen, als deutsche Außenpolitik zu betreiben.
Farbenwechsel
auf Regierungsebene
Mit dem Regierungswechsel 1998 sah sich die radikale Linke seit
16 Jahren zum erstenmal wieder nicht mit einer schwarz-gelben Regierung
konfrontiert. Der kurze Schock und die Verwunderung, dass Deutsche
doch in der Lage waren, einen Kanzler abzuwählen und dann auch
noch den Kanzler der Einheit, war schnell überwunden, und auch
die Erkenntnis, dass die neue Regierung wie angekündigt, nicht
alles anders, aber vieles "besser" machen würde,
deutete sich auch schnell an. "Besser" machen bedeutet
schlicht und einfach, die letzten 4 Jahre Regierungspolitik betrachtend,
Deutschland zu modernisieren. Deutschland zu einer Nation zu formen,
die wie jede andere ihrem ökonomischen Gewicht entsprechend
ihre weltpolitische Rolle wahrnehmen kann und genauso im Stande
war, innenpolitisch mit belastenden Relikten deutscher Geschichte
aufzuräumen. Exemplarisch stehen dafür, die Modifizierung
des Staatsbürgerschaftsrechts, die ZwangsarbeiterInnenentschädigung
und der Aufstand der Anständigen. Diese Vergangenheitsbewältigung
im Innern verknüpft mit einem neuen außenpolitischen
Selbstvertrauen, mit der im Vertrag von Nizza erreichten neuen Stimmgewichtung
im Parlamentarischen Rat der EU, welche Deutschland hier jetzt das
größte Gewicht gibt, die Fähigkeit, wieder Kriege
zu führen, militärisch weltweit zu agieren und demnächst
in der EU bzw. WEU das größte Truppenkontingent zu stellen.
Dass diese Entwicklung in dieser Form, dieser Geschwindigkeit und
mit der begleitenden Rhetorik nur mit Altachtundsechzigern an der
Spitze der Regierung möglich war, ist unbestritten. Dass dies
alles nur die konsequente Fortführung bisheriger deutscher
Politik ist, sollte dabei nicht aus dem Blick verloren werden. Es
verdeutlicht, dass deutsche Interessen deutsche Interessen bleiben
und jede Regierung sie ihren Möglichkeiten entsprechend versucht
wahrzunehmen. Viele unterschiedliche Begriffe versuchen, diesen
Prozess zu beschreiben, ob "Normalisierung", als ob Deutschland
eine Zeitlang "unnormal" gewesen wäre, oder "neues
deutsches Selbstbewusstsein". Was aber an dem Selbstbewusstsein
der deutschen Nation so spezifisch neu oder deutsch ist, wird nicht
deutlich. Auch dass das Selbstbewusstsein der "Volksseele"
1990 mit Gewinn der Fußballweltmeisterschaft und Wiedervereinigungstaumel
schon höher geschlagen hat in der Nachkriegsgeschichte, wird
damit unter den Teppich gekehrt. Die genauste Einschätzung,
was sich unter rot-grün verändert hat, lieferte der bisher
nicht für seine genauen Analysen bekannte amerikanische Präsident
Bush. So entschlüpfte es seinem Mund, worauf deutsche PolitikerInnen
seit 1945 warten. Bush stellte kurz nach dem 11.September und dem
Beschluss des Bundestages, Soldaten für den Krieg gegen den
Terror bereitzustellen, fest, dass Deutschlands Nachkriegsgeschichte
endgültig zu Ende sei. Deutschland ist dort, wo der Rest der
westlichen Nationen längst angekommen ist, die Frage bleibt
nur, ob trotz oder wegen Auschwitz.
"Wer nicht
für uns ist - ist gegen uns!"
Dass es in
dieser Zeit kaum ins Gewicht des öffentlichen Bewusstseins
fällt, wenn der größtenteils sowieso nur belächelte
Verteidigungsminister seinen Hut nehmen muss, und somit eine Auswechslung
des obersten deutschen Truppenbefehlshabers statt findet, spricht
Bände. Obwohl Deutschland Soldaten auf dem Balkan, in Afghanistan,
in Kuwait, am Horn von Afrika etc. stationiert hat, will scheinbar
niemand wahrhaben, dass Krieg ist. Deutschland befindet sich mit
der Verkündigung des Nato-Bündnisfalls im Krieg und dies
schlägt sich sowohl in der Truppenpräsenz nieder, als
auch wie in jedem Krieg in der Innenpolitik. Sicherheitspakete,
die eine Katalogisierung der Bevölkerung nach sich ziehen,
werden verabschiedet. Rasterfahndung nach rassistischen Kriterien
betrieben. Trotz dieser Vorgänge scheint sich die Arbeit der
Regierung und der Medien neu zu gestalten, so anders wie sich der
Krieg gegen den Terror selbst gestaltet. Der alltägliche Kriegszustand
wird in den Hintergrund gedrängt, es findet nicht mehr wie
zu Anfang eine Mobilmachung der Bevölkerung gegen bestimmte
Bevölkerungsgruppen statt, sondern eine Mobilmachung für
die "westliche Wertegemeinschaft". Die westliche Welt
wird zum Hort der Freiheit und des Wohlstands erklärt, die
ihre Werte in der restlichen Welt verkünden und verteidigen
muss. Dieses Bild wird im Gegensatz zu den fanatisch fundamentalistischen
Gotteskriegern aufgebaut, auf deren Seite Gewalt, Rücksichtslosigkeit
und Unterdrückung verortet werden. Wenn der Feind das unfassbare
Böse ist, so kann dessen Gegner nur der Gute sein. In diesem
Gegensatz erscheint die westliche Welt noch heller als sie sich
sonst darstellt. Die Berufung auf die Werte der westlichen Welt,
welche nicht nur die Potenz der Vernichtung in sich trägt,
sondern auch nur durch alltägliche Gewalt und Ausbeutung bestehen
kann, die Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Unterdrückung
des kapitalistischen Verwertungsprozesses, die sich über individuellen
Arbeitszwang bis hin zum einkalkulierten Massenelend manifestiert,
sollen in den Hintergrund gedrängt werden.
Eine linksradikale Bewegung kann sich im Angesicht der Kriegsparteien
und derer Ideologien nicht dem Schweigen verschreiben, da es keine
Chance für emanzipative Bewegungen gibt. Das Integrationsangebot
der grün-humanistischen BedenkenträgerInnen, die meinen,
nur Schlimmeres zu verhindern, muss genauso ausgeschlagen werden,
denn es bleibt eine Einladung zur Rückkehr in die gesellschaftliche
Mitte. Die militärisch und innenpolitisch geschaffenen Fakten
und Tendenzen gilt es, entschieden zu kritisieren und zu bekämpfen,
genauso wie die zivilgesellschaftliche Mobilmachung für den
Kapitalismus und seine Werte.
Wir haben
gewählt!
In Zeiten des FÜR oder GEGEN, scheint es schwer,
sich auf ein anderes GEGEN zu beziehen als das gemeinte. Doch um
der eigenen Kapitulation vor den Zuständen zu entgehen, ist
es gerade in diesen Zeiten notwendig, die grundsätzliche Kritik
am Bestehenden zu artikulieren und zu praktizieren. Den sich während
verschiedenen Gipfeln antikapitalistisch manifestiert habenden Widerstand
gilt es aufzugreifen und sich mit den dahinterstehenden Bewegungen,
Gruppierungen und Netzwerken auseinander zu setzen. Dies gilt nicht
allein für Kongresse, Camps und Seminare, deren Notwendigkeit
nicht bestritten werden soll. Doch auch die scheinbar von diesen
Ereignissen losgelöste Praxis gilt es in diesen Zusammenhang
zu setzen. Dass der "summer of resistance" praktische
Folgen für jede andere linksradikale Praxis hatte, dass der
Faden wiederaufgenommen gehört, der antikapitalistischem Widerstand
wieder Gehör verschaffte, wird bei vielen Debatten um die Ereignisse
an sich verdrängt. Sich in diesen Zusammenhang, die eigene
Praxis in diese Kontinuität zu stellen, um dieser Einpunktbewegung,
die sich gleichzeitig als Bewegung der Bewegungen versteht, eine
linksradikale Ausrichtung zu geben, erscheint vielen anmaßend.
Doch außerparlamentarische linksradikale Praxis steht gerade
wegen eines 11. Septembers immer unter den Vorzeichen des "summer
of resistance". Die Größe, die Radikalität,
die Vielfalt und die Militanz dieses Sommers, die sich gegen das
bestehende System richtete, haben die Strategen der Inneren Sicherheit
nicht vergessen. Diese Bewegung hatte den vorgegeben Rahmen verlassen,
und dies ganz bewusst. Nun gilt es, den Faden weiterzuspinnen und
nicht erst in Prag oder Kopenhagen. Wir stellen unsere Politik seit
Jahren in den Kontext linksradikaler außerparlamentarischer
Bewegungen, wir wollen den gegebenen Rahmen verlassen, weil wir
etwas anderes als diesen Rahmen wollen. Das wird am 10. August genauso
unser Ziel sein, wie es das in Köln 1999 oder in Genua 2001
war.
Wir haben gewählt:
Antikapitalismus globalisieren!
im August
2002
Autonome Antifa [M]
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